DINGE, DIE WIR BENENNEN von Hayley Scrivenor, neu auf Platz 9

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2023, Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es gibt eine wegweisende Collage aus den Fünfziger Jahren vom Briten Richard Hamilton, die sogar in der Kunsthalle Tübingen hängt, : Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing? Und das läßt sich direkt auf dieses Buch übertragen, was macht dieses Debütwerk über ein verschwundenes, dann totes Mädchen aus einer amerikanischen Kleinstadt so unter die Haut gehend, das man atemlos weiterliest, bis man weiß, was passiert ist, was dann wirklich überraschend und völlig anders als erwartet ist, doppelt tragisch zudem.

Erst dachte ich, schon wieder amerikanische Kleinstadt, schon wieder Debütkrimi, aber ohne es zu merken, hatte mich die Art, wie die junge Autorin ihren Fall niederschreibt, längst gefangen. Man muß weiterlesen, nicht weil eine äußere Spannung, die Suche nach dem Täter das Entscheidende wäre, sondern weil einen die Verwicklungen der einzelnen Familien mit anderen gewissermaßen persönlich betrifft. Es geht um Durton, im Sprachgebrauch der dortigen Kinder Dirt Town, eine Kleinstadt im australischen Hinterland, wo von zwei eng befreundeten Mädchen, Esther und Veronika, genannt Ronnie, auf dem Heimweg von der Schule nur Ronnie ankommt.

Seismographisch führt uns die Autorin in die Binnenstrukturen der dortigen Familien, wer mit wem kann, wer mit wem befreundet ist, wie es mit den Männern und den Frauen ist und den Kindern auch. Unglaublich, wie plastisch die jeweiligen Menschen vor uns stehen, man sieht sie wirklich vor dem eigenen Auge, wobei die Familie des Einzelkindes Esti (Esther) im Vordergrund steht und Mutter Constanze wie aus dem Bilderbuch funktioniert. Als ihr Mann verhaftet wird, weil in seinem Wagen unter dem Sitz ein Schuh der Tochter gefunden wird, ist das Leben im Ort nachgradig gestört. Wenn jetzt schon Väter ihre Töchter ermorden!

Dabei langt schon der Vater von Lewis, der seinen Sohn schlägt, vor allem aber seine Frau, die nur nach außen sich nichts anmerken läßt; so auch der Sohn. Wie man trotz räumlicher Nähe ein anderes Bild von Familie zeigen will, als es der Fall ist, ist für einige Hauptthema. Aber es ist nicht alles kaputt. Es gibt auch Vertrauen, das sein darf, es gibt Altruismus, es gibt Fairness, aber eben auch Hochmut, Wut, Neid, Boshaftigkeit und zu guter Letzt auch noch den Zufall.

Das alles bringt die Autorin in eine Melange, die einem suggeriert, man sei Bewohner von Durton und erlebe die Tage nach dem Verschwinden des Mädchens persönlich mit. Formal ist die Anlage des Romans interessant. Es wird durchgängig in verschiedenen Erzählperspektiven erzählt. Mal sind es WIR, das sind die Kinder generell, die das Geschehen kommentieren. Und so wissen wir von der aufgefundenen Leiche der kleinen Esther bevor sie überhaupt von ihrer Familie und der Welt vermißt wird. Aber am Anfang steht unter WIR das Datum 4. Dezember 2001. Und das zweite Kapitel geht mit RONNIE am 30.November weiter, also eigentlich zurück. Man muß also immer genau hinschauen, er zu welchem Datum zu uns redet oder über den geredet wird.

Eigentlich müßte man die ganzen Familien vorstellen, aber dann wäre zumindest ein Erzählband entstanden. So bleibt es dabei, daß dies ein Kriminalroman ist, der so einfach wie raffiniert uns mitten ins Herz der Menschen führt.

Die zehn besten Kriminalromane im APRIL 2023

1 (3) Percival Everett: Die Bäume
Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl
Hanser, 365 Seiten, 26 Euro
Money, Mississippi, unter Trump.1955wurde hier der 14-jährige Emmett Till gelyncht.
Heute werden weiße Rednecks ermordet und kastriert, am Tatort der unheimlich vertraut
wirkende Leichnam eines Schwarzen. Aufstand der Untoten, grotesk, komisch,
brillant und obszön: Zombies geben es den Rassisten zurück, Stück um Stück.


2 (–) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro
Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


3 (–) Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Englischen
von Astrid Finke
Blessing, 686 Seiten, 28 Euro
Delhi, nördliches Indien. Drei Schicksale: Ajay, aus unterster Kaste, Diener,
Beschützer des labilen, ultrareichen Gangstersohns Sunny. Neda, Journalistin aus
verarmtem Adel, unsterblich verliebt in Sunny. Und über den Dreien die mächtigen,
gewalttätigen, kindermordenden Väter. India today wie ein antiker Mythos.



4 (4) Mathijs Deen: Der Taucher
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Mare, 318 Seiten, 22 Euro
Deutsche Bucht. Am Meeresgrund ein Wrack mit doppelter Ladung: Kupferplatten
für eine Million, ein Toter in Handschellen. Die Schlüssel dazu außer Reichweite.
Ein Sadist muss den Wracktaucher ertränkt haben. Liewe Cupido ermittelt zu Wasser
und zu Lande Familienhintergründe voller Schuld, Hass und Rassismus.


5 (1) Megan Abbott: Aus der Balance
Aus dem Englischen von
Karen Gerwig und Angelika Müller
Pulp Master, 416 Seiten, 16 Euro
Ballettschule in den USA. Verkrüppelt, flüchtig, willensstark – so trainieren Charlie,
Marie und Dara tanz- und eifersüchtige Kinder: Die Aufführung des „Nussknackers“
steht an. Spitzentanz stößt auf animalische Gewalt, als Bauunternehmer Derek das
hermetische Dreieck aufmischt. Knisternd, phantastisch, bis zur Explosion.



6 (9) Riku Onda: Fische, die
in Sonnensprenkeln schwimmen
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium, 240 Seiten, 22 Euro

Tokio. In der letzten gemeinsamen Nacht in der ausgeräumten Wohnung wollen sich
Aki und Hiro aussprechen. Bei einer Wanderung ist ihr Bergführer umgekommen.
Bis zur Erschöpfung hadern sie mit Erinnerung, Identität, Familie, Liebe und damit,
wer von ihnen gemordet hat. Alles kann geschehen sein, aber was ist wahr?


7 (–) David Hewson: Garten der Engel
Aus den Englischen
von Birgit Salzmann
Folio, 387 Seiten, 27 Euro
Venedig.1943 finden Mika und Giovanni,vor den Nazis geflüchtete Partisanen,Unterschlupf in der
Seidenweberei der Uccellos. Von Heldenmut, Verzweiflung, Verrat
jener Zeit handelt das Manuskript, das der sterbenskranke Großvater Uccello seinem
Enkel vermacht: Mahnung gegen das Vergessen, dunkle Geschichte des Welterbes.


8 (–) Jérôme Leroy:
Die letzten Tage der Raubtiere
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, 396 Seiten, 24 Euro
Frankreich, nahe Zukunft. Pandemie, Hitze, Aufstände, Lockdown. Präsidentin
Séchard kapituliert. Der Hexenkessel potenzieller Nachfolger brodelt. Morde unter
falscher Flagge machen Stimmung. Innenminister Beauséant jagt Clio, um ihren
Vater als Konkurrenten auszuschalten. Scharfer Politthriller mit poetischer Basslinie.

9 (–) Hayley Scrivenor
Dinge, die wir brennen sahen
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Eichborn, 368 Seiten, 22 Euro
„Durton“, Australien. Nach der Schule verschwunden: Esther Bianchi, 12. Die
Ermittlungen der Polizei und die Erzählungen der Freunde Esthers zeichnen einen
Stadtplan von offener und mehr noch verdeckter Gewalt in „Dirt Town“, wie es die
Kinder nennen. Aber auch von Empathie. So fern ist der Outback nicht.

10 (8) Melissa Ginsburg: Sunset City
Aus dem Englischen
von Kathrin Bielfeldt
Polar, 214 Seiten, 17 Euro
Houston. In Ginsburgs Roadmovie durch Bars, Pornosets, Toiletten stinkt es nach Alk
und Abfall. Kurz nachdem Charlotte ihre ehemals beste Freundin Danielle wiedergesehen hat,
wird diese zu Tode geprügelt. Erschüttert den Mörder suchend handelt
Charlotte in den gängigen Währungen der Stadt: Sex, Drogen, Einsamkeit, Kälte.