"Frankfurt liest ein Buch“, 2014 DIE VOLLIDIOTEN von Eckhard Henscheid, Teil 3

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Unsere Sicht der Dinge und Liebesdinge der VOLLIDIOTEN, die wollen wir, nachdem wir endlich das angekündigte und vielzitierte Buch Wort für Wort selber gelesen haben, auch gerne von uns geben. Denn gelacht haben wir sehr häufig.

 

1973, als Eckhard Henscheid als Mitarbeiter der Satirezeitschrift PARDON, die immerhin bis 1982 erschien, und aus deren personellem Urschlamm sich seit 1971 die TITANIC erhob, die dann als Neue Frankfurter Schule reüssierte, als Eckhard Henscheid also 1973 diesen Roman DIE VOLLIDOTEN als Subskriptionspreise ankündigte, damit er überhaupt erscheinen konnte, da hätten wir uns nicht nur nicht beteiligt, sondern wir hätten solch Machwerk, im Untertitel „Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972“, auch nicht gelesen. Wir waren schließlich politisch.

 

Das waren genau die Jahre, in denen es in Hessen mit der Zukunft bergab ging, in der die Bildungsreform, wenn man dies rückblickend erst nimmt, schon strukturell scheiterte. Verbunden mit dem Namen Ludwig von Friedeburg, der von 1969 bis 1974 Hessischer Kulturminister war und zuvor und danach das Institut für Sozialforschung leitete, also die echte, die erste Frankfurter Schule, verbunden mit den Namen Adorno und Horkheimer. Damals, genau im von Henscheid zitierten historischem Jahr 1972, wurde mit den Rahmenrichtlinien eine völlig neue inhaltliche Ausrichtung von Schule versucht, gegen die dann, weil der Begriff Familie im neuen Fach Gesellschaftslehre kritisch hinterfragt wurde, sich Elternproteste richteten, was zu Versammlungen von über 5 000 Eltern führte und reaktionären Elternvereinen. Ergänzend zu neuen Inhalten sollte die Schule strukturell in Richtung Gesamtschulen als Abkehr von der ständischen Drei-Klassen-Schule entwickelt werden. Alles gescheitert.

 

Von all dem kein Wort, kein einziges in DIE VOLLIDIOTEN, weshalb mich dies Buch damals nicht interessiert hätte. Heute finde ich es faszinierend, weil es eben auch zeigt, warum solch eine Schulreform scheitern mußte, weil sie Gedankenträger wie die der Neuen Frankfurter Schule, Robert Gernhardt, F.K.Waechter, Hans Traxler, Chlodwig Poth, Peter Knorr, F.W. Bernstein, Bern Eilert und eben Eckhard Henscheid, die als Vertreter der Aufklärung die Ersten hätten sein müssen, die solche Gedanken einer demokratischen Volkserziehung hätten vorantreiben müssen, gar nicht mehr interessierte.

 

Diese hatten sich längst in einen Kokon zurückgezogen, der im Roman den Namen der Ecke Oederweg/Bornwiesenweg gelegenen Gaststätte MENTZ trägt. Macht nichts, daß diese auch immer wieder Krenz/Krentz genannt wird, denn so hieß sie auch einmal, die Übergänge sind fließend, es geht um die Funktion der ortsnahen Wirtschaft, wo man gemütlich beisammen sitzt, wie es diesem Völkchen im Nordend gelang, dem direkt an die Stadtmitte angrenzenden Bezirk – heute politisch fest in der Hand der Grünen mit überteuerten Wohnungen.

 

Erst heute lese ich in DIE VOLLIDIOTEN das alles mit, das Kunstprodukt, das Eckhard Henscheid hier gelungen ist. Es ist zum einen Ausdruck der Männerwirtschaft, die sich schon oben bei der Nennung der Neuen Frankfurter Schule zeigt. Keine einzige Frau dabei. Dazu paßt, daß der Roman bevölkert ist von absurden, komischen, gemeinen, halbseidenen und völlig unterbelichteten Männern, aber keine der wenigen, eigentlich drei erwähnten Frauen, lebendige Gestalt annimmt. Nicht einmal Fräulein Evamaria Czernatzke, in die sich wie vom Himmel gefallen kopfüber Herr Peter Jackopp verliebt, bzw. verknallt (16), was den heftigen Wunsch nach dem Flachlegen auslöst. Bissig könnte man sagen, kein Wunder, daß nach einer Woche alles vorbei ist und er sich offiziell entliebt und vom Wunsch des Flachlegens absieht, denn diese angeschmachtete Frau bleibt so seelenlos und blaß, daß man bei aller Kunstfertigkeit des Autors, die er an den Tag legt, nicht glauben mag, er hätte Frauen nicht sinnlicher, ja fleischlicher porträtieren können, sondern an tiefe ehrliche Absicht glauben muß.

 

Das darf er. Denn es geht in gewissem Sinn um ein Kunstprodukt, das wir nie und nimmer eine Satire nennen täten, wie auch Schlüsselroman für uns in die Irre führt, am ehesten lesen wir einen Schelmenroman, so in der Art der Romantik, wo man die Blaue Blume suchte und so für sich hinging. So ähnlich gehen die Protagonisten Biertrinken beim MENTZ und wärmen sich gegenseitig beim Zusammensein. Es liegt etwas Burschenschaftliches in der Luft, eine Männerbranche, wo Frauen gewisse Funktionen erhalten, aber zum Leben nicht dazugehören. Auch das darf sein.

 

Was wir im Roman aber auch lesen, das ist, wie fad das ist, wenn sich Männer so verhalten, wenn sie die Tage verstreichen lassen und das Kleine über sie Gewalt gewinnt, weil man etwas Großes nicht mehr erwartet, bis sie sich im von ihnen selbst Gehäkelten verstricken und ersticken. Aber - und jetzt kommt es, wie Eckhard Henscheid diese Welt schildert, ihre Bedenken, das Kleinkrotzenburgerische, was ja früher Hintertupfingen hieß, diese enge Welt als Biotop des Jahres 1973 beschreibt, davor ziehen wir den Hut.

 

Allein das Vorwort. Ein Kunstprodukt von Gedankenträgern und Handlungsverhinderern. Wirklich genial. Wessen Namen verfremdet wurde, warum Hilmar Hoffmann und Alfred Edel - als Beispiele nur - hier offiziell auftreten, während sich Kollege Autor Genazino als Herr Domingo wiederfindet, das alles hat uns auf einmal überhaupt nicht mehr interessiert, weil Henscheid sie alle benutzt, nutzt ist vielleicht liebevoller ausgedrückt, um ein System zu zeigen, das sich um sich selber dreht und keinen Spielraum gewinnt, auch keinen Ausweg zeigt. Wie im sich ewig drehenden Rad eingeflochten, kommen einem diese männlichen Helden vor.

 

Daß wir beim Roman immer wieder laut lachen mußten, was sich auch wiederholte, wenn wir Passagen mehrmals lasen, das hat damit zu tun, daß Henscheid, da er schon kein Interesse an den eigentlichen Figuren hat, wir meinen kein psychologisches Interesse, seine ganze Aufmerksamkeit in die Situationskomik legt, die solche Pappfiguren eben zustande bringen. Daß es dann ausgerechnet das Geld ist, über dessen Erwerbswunsch wir am meisten, andauernd und ausdauernd lachten, war uns selbst die größte Überraschung.

 

Aber die wichtigste Figur, weil diejenige, die sich Spielräume verschafft, wird eben dieser Wohnungsnachbar Herr Kloßen, der solche genialen Züge der Geldwirtschaft und Geldumverteilungswirtschaft erfindet, daß er dafür schon längst einen Preis verdient hätte und wäre es auch der für die unwahrscheinlichsten Ausreden beim Nichtzurückgeben geliehenen Geldes. Dieser Schnorrer wird für uns der Held des Buches, kein Intellektueller wie andere im Roman, sondern doch eher ein schlichtes Gemüt, der aber die phantasievollsten Volten schlägt beim Schmarotzen, beim Anbetteln, beim Anpumpen, beim Borgen, beim Nassauern, beim um Geld bitten, Geld erbetteln, Hausieren, Anzapfen etc., das aber immer in Würde und gewissermaßen maßvoll mit Abstraktions- und Additionsberechnungen im ansonsten banalen Gespräch. Dieser Herr Kloßen und seine Reden, das wird uns für immer an DIE VOLLIDIOTEN binden.

 

Foto:

Verleger Klaus Schöffling beim Vorstellen der im Schöffling & Co. Verlage 2014 erschienenen Neuausgabe anläßlich von FRANKFURT LIEST EIN BUCH

INFO:

 

Eckhard Henscheid, Die Vollidioten, Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972, Schöffling & Co 2014

 

Ein zusätzlicher Lesetip: Eckhard Henscheid, Verdi ist der Mozart Wagners. Ein Opernführer für Versierte und Versehrte, Reclamverlag