deutscher jgadverbandMEIN ERSTAUNLICHER HANG ZU FEHLTRITTEN. Bernardo Zannoni zeigt, daß Tiere die besseren Menschen sein können, Teil 2/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Allgemeinwissen sind die Steinmarder nachtaktive Tiere, leben vereinzelt und halten sich in der Umgebung von Menschen auf. Auf jeden Fall verkauft die Mutter den durch einen Unfall zusätzlich in der Bewegung behinderten Archy für eineinhalb Hühner an den alten Fuchs Fëdor, der für Archy erst ein Quell der Angst, ist dann der Erkenntnis wird. Er kann nämlich lesen, glaubt an Gott, hat eine Bibel und will Archy bekehren.

Dennoch ist Fëdor gleichzeitig der schlimmste Ausbeuter: er verleiht zu völlig überhöhten Zinsen Geld und nimmt Sachwerte als Pfand für Geld und ist völlig mitleidlos, wenn seine Kunden draufgehen, er verkauft Lebensmittel und genießt, wie er aus allem seinen Reibbach macht. Es ist ein harter Existenzkampf unter den Tieren, den viele nicht überleben. Da muß man oft schlucken, denn wir sehen die Tiere lieber in gutem Licht denn als tote Kadaver.

Das Leben von Archy beim Pfandleiher ist hart, doch Archy wird zum Marder ohne Eigenschaften und gewinnt durch seinen Arbeitseinsatz und fehlenden Stolz nach und nach das Vertrauen des Alten. Der schickt ihn sogar zu Archys Mutter, mit der er ein Geschäft vereinbart hat. Der schockierte Archy muß erleben, daß der fiese Matthias, ein Macho-Steinmarder seine Mutter umgarnt hat, sich festgesetzt hat und die Geschwister vertrieben hat. Bis auf Louise, die mißbraucht er als pädophiler Steinmarder. Archy weiß nun, daß dies nicht mehr sein Zuhause ist.

hr22Gleichzeitig gewöhnt sich der alte schlaue, aber ziemlich kranke Fuchs mehr und mehr an Archy, vertraut ihm und fängt an, ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen. Der Wendepunkt für den räuberischen Fuchs war das Auffinden der Bibel und sein Lesen- und Schreibenlernen. Um das an Archy weiterzugeben, muß der allerdings erst einmal die Sprache der Menschen erlernen. Archy begibt sich auf einen Lerntrip, der unter Mardern seinesgleichen hat. Gleichzeitig arbeitet er weiterhin hart im Pfandleihgeschäft und versorgt den immer hinfälliger werdenden Fëdor. Doch es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt: der fiese Matthias erscheint. Überhaupt kommt manches zusammen, was die Gottgläubigkeit von Archy erschüttert. Das Schicksal seiner Schwester Louise gehört dazu, in die er verliebt war, ja, die er liebte. Er kann lieben, er kann hassen, er kann reden, er kann hart arbeiten und er kann lesen und schreiben. Nur tief an Gott glauben, kann er nicht so leicht.

Höchste Zeit, von Gioele zu sprechen, denn der alte Fuchs Fëdor ist ohne seinen Hund nicht zu denken, der ihn hingebungsvoll schützt. Und ohne den Hund könnte der kleine Steinmarder bei den großen Wildschweinen nichts ausrichten. Denn immer wieder müssen die zwei die Schulden eintreiben, die sie beim listigen, geldgierigen Fuchs haben. Ob Gott ihm verzeiht, daß er ein anderes Tier tötet, ist durchaus eine Frage, aber die wird durch sein Verliebtsein überlagert. Anja heißt seine Auserwählte, eine Marderweibchen, die auch an ihm Gefallen findet. Doch da ist ihr Vater, wie leben in patriarchischen Zeiten, dagegen, der will seine Tochter im Herbst an den Stärksten vergeben. Mein Gott, der alte Fuchs stirbt immer noch nicht, nur immer halb. Aber dann ist es soweit. Er gibt auf, wenn Giosele ein Grab für ihn aushebt und Archy die Geschichte des Fuchses niederschreibt, was er tut. Und dann hilft ihm der Hund auf besondere Art, die viel kräftigeren Bewerbern um Anja auszuschalten. Sie wird sein! Gott hat geholfen, es gibt ihn also doch.

Doch kommen erneut harte Zeiten, denn er hat das Vermögen vom alten Fuchs nicht zusammenhalten können, wurde zudem ausgeräubert, es herrscht Hunger und Archy ist soweit den ältesten Sohn, den Anja ihm geboren hat, zu verschlingen. Es wiederholt sich das Geschehen. Mutter Anja flieht mit den Welpen in die Kälte, ins Eis.

Archy überlebt auch diesen Winter, doch als im Frühjahr der alte Luchs kommt, Gilles will seinen Besitz, die Bibel, zurückhaben, die ihm der listige Fuchs gestohlen hatte, da muß Archy passen. Er hat nämlich die Bibel mit seinem Herrn zusammen beerdigt. Gilles rächt sich, brennt alles nieder, zwar kann sich Archy retten, aber seine Zukunft sieht düster aus. Da kommt ein Stachelschwein daher. Es ist Klaus, ein ganz lieber. Und wieder passieren die abenteuerlichsten Dinge, er will weiter, aber kommt zu Klaus zurück. Doch gegen seinen starken Sohn kann er nichts ausrichten. Der hat Anjas Fleck am Hals und sein Todeskampf wird nicht geschildert, aber er sieht sich als Teil der Natur, in die er nun übergeht.

Schluchz, schluchz. Das war mit dem ‚traurig‘ gemeint, manche Passagen nehmen einen einfach mit. ABER, das ist wichtig. Das Buch ist nicht sentimental, hier gibt es keinen Kitsch, nur eine sehr unwirtliche Gegenwart. Wenn Mitscherlich 1965 von der Unwirtlichkeit unserer Städte sprach, so schreibt dieser Marder Archy als Icherzähler von der Unwirtlichkeit unserer Natur, wobei sich Natur sowohl auf unser Inneres bezieht, wie auf die belebte und grüne Natur.

Foto:
Steinmarder
©Deutscher Jagdverband
Vergrößerung des Hörbuchs von hr2

Info:
Bernardo Zannoni, Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten, gebundenes Buch 256 Seiten, Rowohlt Verlag, Erscheinungsdatum:13. Juni .2023
ISBN:978 3 498 003326