DIE GEPRÜFTE HOFLUFT - Christopher Clark „Die Schlafwandler“, erschienen bei DVA

 

Helmut Marrat und Redaktion

 

Hamburg (Weltexpresso) – Schon länger bereitet die Redaktion von Weltexpresso eine Serie zum Ersten Weltkrieg vor, die sowohl die jüngst erschienen Bücher (Clark, Münkler, Leonhard), auch Hörbücher, wie auch die Filme sowie die Fernsehsendungen, aber auch Vorträge umfaßt und mit Karl Kraus und DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHEIT auch das Theater miteinschließt. Hier der CLARK IN ALLER KÜRZE als Vorlauf.

 

Wenn man über Erfolg oder Misserfolg eines Buches nachsinnt, so lassen sich pro und contra stets zahlreiche Gründe finden. Ganz sicher, und vielleicht ein wenig sonderlich, steht ganz oben die Gestaltung eines Buches, also Farbe, Schrift, beziehungsweise ein lockendes Titelfoto. So arbeiten längst die wesentlichen Tageszeitungen, und ganz besonders wirkungsmächtig die Wochenzeitung DIE ZEIT.

 

Ich weiß gar nicht, wann jene "Bilderflut" in Büchern begann, denn, wenn man sich ältere Bücher ansieht, so beschränkten sich die Verlage allenfalls auf grafische Finessen. Zweifellos verfügte man seinerzeit noch nicht über ausreichend technische Möglichkeiten wie heute, vor allem waren Abdrucke von Bildern in Büchern, gar farbige, viel zu teuer. Sicher galt früher zudem eine allzu starke Bebilderung als eher wenig seriös, sowohl bei Zeitungen als auch bei Büchern.

 

Christopher Clark hat seine jüngste Abhandlung über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges "Die Schlafwandler" betitelt, insinuierend, dass sich alle Mächte um 1914 in einem Zustand des Unbewussten bewegt hätten. Damit ist man zurückgekehrt zu jener These, man sei in jenen Krieg "hineingeschliddert". Dann trat der deutsche Historiker Fritz Fischer auf und beherrschte, wiederum für lange Zeit, den Diskurs: Das Deutsche Reich, so Fischer, sei der Hauptschuldige am Ausbruch des Krieges, den die Franzosen und Engländer bis heute den "Großen Krieg" nennen. Man schrieb die sogenannten 68er Jahre und fand gesellschaftlich weithin verbreitet, in jener Täterrolle solle und werde man - Deutschland - sich einrichten.

 

Doch wie es so ist, steckt man dann fest. Und, um sich bei Karl Kraus zu bedienen, brauchte man dringend einen "Butler, der die Räume auf Hofluft prüft." Ist Christopher Clark das geglückt? Erst einmal sind "Die Schlafwandler" für ein Sachbuch ein sehr wirkungsvoller Titel. Wer weiß heute noch, dass die seinerzeit berühmte Trilogie Hermann Brochs (erschienen zwischen Dezember 1930 und April 1932 mit dem Tenor des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland) exakt so hieß, beziehungsweise, wer stört sich heute noch daran? Auch bei Broch ging es um den Ersten Weltkrieg, allerdings weit umspannt, indem der erste Band in Preußen angesiedelt ist, einen preußischen Offizier zum Träger hat und um 1888 spielt, der zweite im mittleren Rheingebiet stattfindet und den Kleinbürger Esch 1903 zur Hauptfigur macht und der dritte Band 1918 im Elsaß den Geschäftsmann Huguenau wirken läßt.

 

Es gibt zur hundertjährigen Wiederkehr des Ersten Weltkriegs eine Flut von Büchern, doch "Die Schlafwandler" ist das erfolgreichste, auf jeden Fall meist diskutierte und öffentlich wahrnehmbare. Das muss Gründe haben, denn auch die Betrachtung von Herfried Münkler etwa ist, wenn auch ein wenig staubtrocken erzählt, lesenswert. Christopher Clark aber ist Australier, stammt demnach aus dem angelsächsischen Raum, und er spricht - zugespitzt - die Deutschen frei von der alleinigen oder auch allein zu verantworteten Kriegsschuld. Vor allem verengt er seine Betrachtung nicht auf das englisch-deutsche Verhältnis (Stichwort Flottenbau), sondern bemüht sich, allen Parteien gerecht zu werden. England, gegen die, laut Sebastian Haffner, die Deutschen den 1. Weltkrieg hauptsächlich verloren haben, beschreibt er als eine stark um Vermittlung bemühte Macht; Serbien als eine bereits in den Jahren zuvor zerrissene Mittelmacht; und Österreich-Ungarn als letztlich ein wenig tumbes Reich.

 

So war man 1914 schon deswegen nicht angriffsbereit, weil am 28. Juli 1914 ein Großteil der Soldaten im Ernteeinsatz war. Das Deutsche Reich führt uns Clark als eher zögerlich denn aggressiv vor; und von Italien erfahren wir die staunenswerte Tatsache, dass dort in jenen Jahren eine ganz besonders starke Flottenpolitik betrieben wurde. Weniger deutlich scheint herausgearbeitet, wie zerüttet das zaristische Russland jener Jahre war. Immerhin stand man kurz vor einer Revolution, und Lenin wartete schon in der Schweiz.

 

Insgesamt erzählt Christopher Clark lebendig, aber sehr detailfreudig, und es drohen dem Leser bei den mit Anhang insgesamt 895 Seiten zwischendurch leichte Erschöpfungszustände.

 

Dennoch: In seiner in aller Regel lesenswerten Abhandlung steckt ein hoher Wert.

 

 

Info: Christopher Clark : Die Schlafwandler; Deutsche Verlags Anstalt 2013, ca. 718 Seiten, nebst einem vorzüglichen Anhang.