Serie: Deutscher Buchpreis 2023, Teil 6
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Was macht man, wenn man beim Lesen eines Romans zwei Gefühle gleichzeitig hat? Gefühle? Ja, aber natürlich auch Empfindungen, Sichtweisen, Analysen, Beurteilungen. Es geht schlicht darum, daß ich einerseits einen hervorragend geschriebenen Jugendroman lese, der andererseits einfach zu perfekt ins Bild der heutigen Zeit paßt. Angepaßt. Nicht im herkömmlichen Sinne.
Allerhand, was Till in der Unterstufe des Wiener MARIANUM – Schachinger selber war Schüler des THERESIANUM in der Favoritenstraße, 4. Bezirk – erlebt. Eine Vokabel wie kindangemessen oder schülerorientiert würde man dort zwar buchstabieren können, aber nicht wissen, was es bedeutet. Formale Bildung von gestern und ein Wertekanon, den antiquiert zu nennen, euphemistisch ist. Man hat beim Lesen gleich am Anfang das Gefühl, man lese etwas Thomas Bernhardsches mit, was kein Nachteil, sondern eine Auszeichnung ist! Allerdings aus zweiter Hand. „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenig Konsequenzen hätte. Menschen, die nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen. Jeden Tag können Sie die Beherrschung verlieren, weil sie sich daran gewöhnt haben, in einem kleinen Biotop nach eigenem Belieben die Regeln zu schreiben, die andere zu befolgen haben….dann wird für alle offensichtlich, was jene, die einem solchen Menschen ausgeliefert sind, längst wußten, nämlich, daß es sich um einen Wahnsinnigen handelt, um jemanden, der über niemanden bestimmen sollte.“
Und dann folgt: „Der Dolinar, Tills Klassenvorstand, dessen Aussehen…“, der immer Schwarz trägt und dessen Klassen seit dreißig Jahren ein spezieller Ruf vorauseilt: überdurchschnittlich gute Noten, kaum Abbrecher, also zurück in die Neue Mittelschule, tadelloses Benehmen , unauffällig, verschwiegen...Da muß man sich doch nicht wundern, daß aus den Abgängern von Dolinars Klassen etwas wird im bürgerlichen Leben in Österreich, was auch für den Autor Tonio Schachinger gilt. Es paßt im Roman einfach alles zu gut ins Weltbild eines aufgeklärten Europäers. Ich fühle mich dauernd angesprochen, zu nicken oder den Kopf zu schütteln.
Genug der Kritik. Das Buch ist hervorragend geschrieben. Es ist gewissermaßen durchkomponiert und läßt sich noch in hunderten von Jahren als Ausweis einer ‚Jugend in Wien um 2010-20‘ lesen. Was fehlt, wie, was, schon wieder eine Kritik?, ist Till selbst. Das ist jetzt gemein, denn es geht doch dauernd um Till. Ja und nein, er ist wie ein durchsichtiges Glas, der auf die Umwelt reagiert, sich seinen Teil denkt und erst brav, später immer stärker nach eigenem Ermessen handelt. Wir sehen unaufhörlich seine Umwelt durch seine Brille, leiden mit ihm unter den schulischen Zuständen, aber lernen den Till, wie er sein möchte, einfach nicht kennen.
Auch nicht im zweiten Teil, wo es um die Mädchen und die Jungs geht. Mehr um die Mädchen, Feli ist eine besondere Nummer, die man gerne kennenlernen möchte, eine Überfliegerin, die den ersten Preis beim Exil-Schüler-Literaturpreis gewonnen hat, deren beste Freundin auch die von Till wird: Fina. Daß man in dem Alter nicht genau weiß, was man will und wenn man lieb hat und lieber, gehört einfach dazu und dieses Sich-Laufen -Lassen der Jugendlichen beschreibt der auktoriale Erzähler gekonnt und eben allwissend. Doch es gibt noch mehr, was für Till essentiell und existentiell wird: sein Vater stirbt und er wird zeitlebens bedauern, daß er sich nicht mehr mit ihm beschäftigt hat. Der abwesende Vater bleibt einem lebenslang. Da hilft auch nicht, obwohl es gut tut, daß er ihm eine Wohnung vererbt hat, die ihm mit 18 Jahren dann zusteht.
Ob wir Till wiedersehen, ihn wiederlesen. Wenn das Buch aus ist, habe ich inzwischen echtes Interesse an Till gewonnen, mich interessieren seine folgenden Schritte sehr viel mehr als die Internatsgeschichten, die ja nur den Hintergrund vom Großwerden ausleuchten, aber jetzt geht es darum, was daraus wird. Was aus ihm wird, der ja längst kein Gamer mehr ist, also kein Spieler mehr, aber auch noch kein Lebenskünstler. Das wäre interessant.