mamanSerie: Deutscher Buchpreis 2023, Teil 9

Roswitha Cousin

Berlin (Weltexpresso) – Es war meine Idee, der Redaktion vorzuschlagen, die Romane der sechs Buchpreiskandidaten von möglichst vielen Redaktionskollegen lesen zu lassen und daß sich dann einer das Buch zur Besprechung aussuchen könne, das ihm am besten gefiele, dem man selber den Deutschen Buchpreis zugestehen und überreichen würde wollen. Und das ist für mich MAMAN, was französisch ist, wegen des gesprochenen o am Ende!

Ein feines, kleines, 173 Seiten kurzes Buch, das in einem anschmiegsamen, ganz eigenen und besonders schönen Deutsch von Frauen schreibt, Müttern, Ehefrauen und auch den abwesenden oder kaum sichtbaren, auch unangenehmen und bösartigen Vätern, so daß nicht nur eine Familienchronik zusammenkommt, sondern Sylvie Schenk ohne Weiteres nebenbei auch eine Geschichte ihrer Familie von 1871 bis 1982 schreibt, der Familie aus armen, auch bäuerlichen, auch Arbeiterkreisen, historisch und soziologisch zugleich auf viele andwendbar und dann auch noch aus Frankreich. Auf Deutsch.

NACHGETRAGENE LIEBE hätte ich als Titel genommen, denn um diesen Vorgang handelt es sich. Da ist eine junge Französin, Sylvie, die nur einen einzigen entscheidenden Lebenswunsch hat, weggehen zu können, weg von der Familie, weg von der Mutter, der gegenüber sie immer ein Gefühl von Mitleid, auch Scham, daß die Mutter nicht mehr hermacht, fast dumm ist, stumm sowieso und nur ihre blauen Augen für sie einnehmen. Mit solchen Gefühlen ist ein Kind und auch noch die junge Erwachsene überfordert, denn es bedeutet, daß man eigentlich die Mutter der Mutter ist und diese wie ein minderbemitteltes Kind behandelt, behandeln muß.

Geredet wird in dieser Familie kaum, aber die Schwestern, nacheinander kommen Aline, Sylvie, Pauline und Lisa zur Welt, als vorletzter noch Bruder Philippe, sind innig miteinander, auch wenn der Altersabstand zu Lisa insofern wichtig wird, weil diese ihre Mutter nicht wie die Älteren verspannt, angespannt, ängstlich empfindet, sondern regelrecht ‚entspannt‘, das letzte Wort, das Sylvie für ihre Mutter einfiele, das sie sich aber damit erklären kann, daß diese vom Alter her keine Kinder mehr kriegen kann und ihrem Mann nicht mehr zu dessen Willen sein muß.

Wie zart, ja poetisch die Autorin ihre Mutter und deren Leben umkreist, hat das Gegenstück im schnörkellosem Beschreiben der Zeit, des furchtbaren 2. Weltkrieges. Nie erhebt sie laut ihre Stimme, aber sagt deutlich ihre Meinung, doch ordnet sie alles dem Leben ihrer Mutter Renée unten, von der sie sich in allerletzter Sekunde noch verabschieden kann, ehe diese an Krebs stirbt.

Renée ist die Tochter von Cécile Gagnieux, einer Seidenarbeiterin aus Lyon, die 1916 an der Geburt stirbt, das Kind wird weggeben zu grausamen Leuten, armen Bauern, die das Kind ausbeuten und mißhandeln, bis dies entdeckt und sie erneut auf dem Markt für Kinder angeboten wird und nun zu liebevollen Pflegeeltern kommt, Marguerite, die noch für Sylvie das Tor zur Literatur wird, eine belesen, warmherzige, großbürgerliche Frau, die Renée eine gute Mutter wird, aber deren innere Einsamkeit, ihr Eingekasteltsein, ihre Scheu, ihre Scham, ihre Unsicherheit nicht nehmen kann. Verheiratet wird Renée mit einem Mann, der hätte schlimmer kommen können, besser auch.

Und Renée erlebt dann auch noch Liebe, zwar spät, zu spät, aber besser als nie! Die Dichte der Erzählung kann man in einer Besprechung nur rühmen, nicht wiederholen. Es entfaltet sich in den Sätzen von Sylvie Schenk wirklich ein Panorama des Jahrhunderts, aber eben nicht abstrakt, sondern an und um Renée, ihre Vor- und ihre Nachkommen.

Die so gut erzogene Sylvie wird bei den Teutonen grob in ihrer Ausdrucksweise, findet die Cousine und das findet die Autorin auch selbst. Und sie hat Recht. Aber das hebt ihr übriges feines Textgespinnst um so eher in luftige Höhe.

Doch dann fällt der Hammer. Mit drei Kürzestkapiteln am Schluß, betitelt ALLEIN (1) – (3), sagt erst Aline im Dezember 1961 voller Angst ihrem Freund, der gerade aus der Schule kommt: „Ich bin schwanger“. Er erwidert: „Ich werde mit meiner Mutter sprechen. Die kennt Ärzte.“, dann sagt im Juni 1965 Schwester Pauline dasselbe zu ihrem Freund, der antwortet: „‘Merde’, sagt er. ‚Merde et merde et merde‘.“ Dann äußert Schwester Lisa 1982 zu ihrem Freund „‘Ich bin schwanger’. Und in seinem Gesicht sieht sie blankes Entsetzen.“

Das sitzt.