Bildschirmfoto 2023 10 16 um 01.43.15Serie: Deutscher Buchpreis 2023, Teil 12

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Starker Auftritt am Schluß: Necati Öziri kam mit VATERMAL und legte einen bühnenreifen Auftritt hin. Nein, er las nicht im Sitzen, im Sitzen hält man auch keine Reden, keine Aufrufe, er ging ans Pult und schon war die Aufmerksamkeit da, die nötig ist, will man am Ende eines zweistündigen Wörtermarathons die Zuhörer noch erreichen: Nach Hause geeilt, sofort den Roman gelesen ! Echt.

Tja, ein guter Schriftsteller, ein eigener Sound und ein gutes Buch, in dem, das beschwor er, kein Wort zuviel steht, denn er ist es mit seinem Verlag noch einmal Wort für Wort durchgegangen. Und nur um das Buch geht es, denn sein gekonnter aufmerksamkeitsheischender Auftritt war zwar für die über 700 Zuhörer und Zuhörerinnen wichtig, nicht aber für die Jury. Denn die verläßt sich auf’s Selberlesen. Und da hat sie diesmal sicher genug Diskussionen, denn in diesem Jahr sind alles sechs Romane preiswürdig.

Aber es waren nur vier der sechs Aspiranten an diesem Sonntag ins Schauspielhaus gekommen. Zuerst hatte krankheitsbedingt Terézia Mora (MUNA oder Die Hälfte des Lebens) abgesagt und dann aus den gleichen Gründen auch Anne Rabe (Die Möglichkeit von Glück). Das war schade, aber nicht zu ändern und brachte mit sich, daß die vorgesehene Moderatorin nicht zum Zuge kam und es bei Christof Schröder und Alf Mentzer blieb.

Und nachdem Sonja Vandenrath für das Kulturamt der Stadt und Hauke Hückstädt für das Literaturhaus, die gemeinsam Träger dieser abschließenden Lesung vor der Entscheidung heute, am Montag, 16. Oktober im Frankfurter Römer, dem Vorabend der Frankfurter Buchmesse sind, die Gekommenen begrüßt hatten und die Auswahl auch kommentierten („Große Inspektionen des Privaten“, Hückstädt ), kam Christoph Schröder mit Sylvie Schenk zum Zuge. Die 1944 in Frankreich geborene, hat einen Deutschen geheiratet und lebt seit 1965 in Deutschland und schreibt inzwischen auf Deutsch.

Mit MAMAN tastet sie sich an ihre ihr doch etwas fremde Mutter an. Deren Mutter starb im Kindbett und so gab die Autorin in warmherzigen Worten Auskunft über das Schicksal des Kindes und ihr weiteres Leben in Lyon, in dem sie zur Mutter von fünf Kindern wurde, aber eine zurückhaltende Mutter blieb, unbedarft, leise, ja fast stumm und für die Kinder auch immer Anlaß, sich nach einer anderen Mutter zu sehnen.

Auffällig wurde bei der Lesung des Anfangs - die Autorin hat ganz kurze mit Titeln versehene Kapitel – die zärtliche, ja poetische Sprache, die Warmherzigkeit auch im Inhaltlichen, keine Glorifizierung, sondern eine liebevolle Suche, eine Erklärung für diese besondere Mutter, der sie durch das Hineinversetzen in ihre Lage, im Nachhinein Zuneigung und Respekt ausspricht; eine nachträgliche Liebeserklärung.

Da kam Ulrike Sterblich mit DRIFTER gerade von einer ganz anderen Seite. Ihr Moderator Alf Mentzer, Hessischer Rundfunk, hatte das Buch sehr genau gelesen, er sprach vom Riesenspaß, den er hatte und wie ihm systematisch von der Autorin der Boden unter den Füßen entzogen wurde. Stimmt, der Ich-Erzähler Wenzel ist unzuverlässig und er versteckt sich auch ein wenig in seiner Bewunderung für Freund Killer, beides Freunde aus Kindheitstagen.

Der geheimnisvollen Person Vica galt das besondere Interesse des Moderators, keine Wunder, diese schöne, wohlgestaltete Vica ist ja auch eine Nummer, die noch dazu eine schräge Marotte hat, mit ihrem einen Auge fährt sie spazieren und irritiert den sie bewundernden Wenzel nachhaltig. Dieser Wenzel ist ein lieber Kerl, der Orientierung gut brauchen kann und Vica ist nun eine, die mit ihren Video-Auftritten genau das Bedürfnis von Wenzel befriedigt, Teil der großen Welt zu sein, wo er doch nur ein kleines Licht in einem TV-Sender ist, wo er Leserbriefe beantwortet.

Lange kann er nicht verdauen, daß Freund Killer, den er doch ob seiner Kreativität als PR-Chef einer Lebensmittelkette und des immensen Einkommens bewundert, eine Persönlichkeitsänderung erfährt. Ursache ist der Blitz – und das Ungewöhnliche an der sehr zugewandten und kundigen Gesprächsführung durch den Moderator war, daß er überhaupt nicht auf den Blitzschlag zu sprechen kam, dem Killer ausgesetzt war, sondern nur von den Auswirkungen sprach: Killer wird innerlich, seine angeberische Position wird er sogar kündigen, die teure Wohnung aufgeben, zurück ins Haus der Kindheit ziehen, wo er einige Stockwerke über der seiner Mutter eine Wohnung findet. Ihm folgt dann die Unternehmerin und Influencerin Vica, die den ganzen Block übernimmt und dort ihr Imperium errichtet.

Der anarchische Charakter ihres Romans, der in einer Art Jugendsprache erst einmal harmlos daherkommt, kommt in dem Gespräch gut heraus, ja der Moderator spricht sogar von Sprengkraft, auf jeden Fall phantastisch und überraschend.