Serie: Deutscher Buchpreis 2023, Teil 7
Susanne Tenzler-Heusler
Salema/Portugal (Weltexpresso) – „Am Ende, wenn die Welt vergeht
Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
Wenn kein Atom mehr von uns steht
Seit zwölf Milliarden Jahren,
Wenn schweigend still das All zerstiebt
Und mit ihm auch die letzten Fragen,
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
Niemals gegeben haben.“
Mit diesem wunderbaren Gedicht von Wolfgang Herrndorf beginnt das Buch von Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“. Und schon mal eins vorneweg: das Buch sollte ein MUSS sein für jeden Menschen, den der Wunsch des Verstehens umtreibt. Warum ist heute vieles so, wie es ist. Warum scheint die Mauer in den Köpfen z.T. widerstandfähiger denn je? Warum tickt der Osten, wie er tickt… Gerade aber die letzte Frage ist nicht zu beantworten. Denn es gibt nicht DEN Osten. Genau genommen gibt es 16 Millionen eigene verschiedene DDRs. Und Anne Rabe erzählt von ihrer DDR. Geboren 1986 in Wismar, erinnert sie sich, will festhalten, geht auf Spurensuche ihres Großvaters Paul, will manchmal vergessen, Gefühle von damals wahrnehmen, verstehen. Sie erzählt in einfacher, sinnbildlicher Sprache die Geschichte ihrer Familie in drei Generationen, unterteilt in 50 kleine Kapitel.
Vor allem aber erinnert sich Anne Rabe an das Schweigen, Verharmlosen und an die Brutalität ihrer Kindheit/ Jugend. Und diese „vererbte Brutalität“, aufgrund fehlender Aufarbeitung gleich zweier Diktaturen, ist eine der wichtigsten Thesen des Buches. Das muss man auch erstmal schlucken (zumal wenn man selbst aus den neuen Bundesländern kommt): „"Ich hatte das Gefühl, dass dieser Osten brutaler und gewalttätiger ist", sagt sie in mehreren Interviews.
Sie und ihr Bruder wurden in der Kindheit misshandelt, damals hieß es „streng erzogen“.
„Da fiel mir dann zum Beispiel ein, wie Tim und ich gelernt hatten, ordentlich mit Messer und Gabel zu essen. Wie selbstverständlich es war, dass einem jeder, von den Eltern über die Tanten bis hin zu Bekannten, ständig auf die Finger schlug. »Setz dich gerade hin!« »Falsche Hand, die Gabel in die Linke!« »Nun fass das Messer ordentlich an, spiel nicht mit dem Essen und sprich verdammt nochmal nicht mit vollem Mund“, heißt es z.B. im Buch.
Oder dann in den 90er Jahren (den sogenannten Baseballschlägerjahren):
„Auf dem Schulhof und auf der Straße hieß es Anfang der 90er: »Bist du links oder rechts?« Meine Cousine Katja antwortete für uns beide: »Wir sind politisch neutral.« Als ich sie fragte, was das heißt, kaute sie etwas genervt auf ihrem Kaugummi, das schon ganz hart war: »Wir sind keine Zecken und auch keine Glatzen. Aber die Ausländer sind halt was Schlechtes.«
«Mutter hat gesagt, dass man nichts gegen Ausländer haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deutschen keine Lust mehr haben. Und die Vietnamesen, wo sie in Rostock das Haus angezündet haben, die sind sogar schon zu Ostzeiten in Rostock gewesen, die können gar nichts dafür. Außerdem waren da auch viele Nazis aus dem Westen dabei. Die hat man extra da hingefahren, damit sie Randale machen. Das waren Rowdys. Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass die alle Rostocker sind.“
Man muss das Buch oft zur Seite legen, vieles erst einmal verarbeiten. Zum Beispiel wenn es um ihre vietnamesische Freundin Chau geht:
„Der Küchenkiosk hatte mittags immer schon Hochbetrieb. Da standen Erwachsene und prosteten sich mit Bier zu, aber eben auch Nazis, Jugendliche, die Großen. Sie läuteten hier mit dem Klackern ihrer Dosenbiere schon mittags das Ende des Tages ein. »Na, Schlitzie?« Wir versuchten, sie zu ignorieren und einfach weiterzugehen, denn auch wenn es das erste Mal war, wussten wir schon, was passieren würde. »Haste wohl zu viel Reis gefressen, ne?« Sie kreisten uns ein. Das ging sehr schnell. Ich weiß nicht mehr, ob die anderen Männer am Küchenkiosk lachten. »Kannst du nicht antworten, Schlitzauge?« Aber geholfen haben sie weder der sechsjährigen Chau noch uns, die wir begannen, die Jungs zu beschimpfen.“ Dieses Wegschauen und die fehlende Empathie breiter Bevölkerungsschichten… Damals wie heute – kaum zu ertragen.
Dennoch, das Buch endet hoffnungsvoll. Die Erzählerin hat eigene Familie, hat vieles vergeben, sich ganz klar abgrenzt und übt sich in Geduld. Das, was wir wohl alle ein wenig mehr machen sollten.
"Du hast versucht, dich zu erinnern. Komisch, denkst du, als Kind hast du dich danach gesehnt, ein Stein zu werden und im Meer zu versinken. Jetzt bist du seit Jahren nicht ins Wasser gegangen, denn sobald du den Boden unter dir nicht mehr erkennen kannst, hast du das Gefühl, etwas würde nach dir greifen und dich verschlingen. Vielleicht solltest du es noch einmal versuchen. Vielleicht erst einmal fünf Schwimmzüge und dann zehn und immer so weiter". ....