KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Mai 2014, Teil 2

 

Elisabeth Römer



Hamburg (Weltexpresso) - AUSBRUCH von Dominique Manotti, neu auf dem 3. Platz als aridne Kriminalroman des Argument Verlags, hatten wir schon herbeigesehnt, denn die grande Dame des politischen Kriminalromans, überrascht die Leser immer wieder mit neuen Facetten.



Mal sind es geschichtliche Streifzüge, mal ist es die Wirtschaftskriminalität und diesmal eine so unglaubliche wie glaubwürdige Geschichte, die drei Kontinente überspannt. Aber nicht überspannt ist, sondern voller Witz und der Überraschung, wie aus kleinen Leuten große werden können – und umgekehrt, natürlich.



Was uns an Dominique Manotti so begeistert, ist einfach, daß ihr literatisches Personal wechselt, stärker als die Jahreszeiten oder Kontinente. Das Verrückte ist ja, daß der Leser einerseits das Beständige liebt, also viele Romane mit dem gleichen Personal und differenten Fällen wie die Jack-Reacher-Romane von Lee Child oder traditionell Agatha christies Detektiv Hercule Pirot oder Miss Marple, was heute vor allem die Skandinavier in ihren Kriminalromanen goutieren. Dann aber wir man glücklich darüber, daß einem jemand wie Dominique Manotti durch unterschiedliche Zeiten, durch gesellschaftliche abgründe wie Wirtschaftskriminalität, durch Dritte Welt Überbleibsel im Alten Europa führt. Dabei ist das noch ganz dürftig ausgedrückt.



Das Weihnachtskind Manotti, sie wurde wirklich am 24. Dezember 1942 in Paris geboren, ist von Haus aus Historikerin und hat erst mit 50 Jahren, was dann jetzt auch schon vor über 20 Jahren war, ihren ersten Krimi geschrieben und es heißt, daß ihre Motivation die Enttäuschung über die Regierung Mitterand war, weswegen sie nicht mehr aktuell politisch tätig sein wollte, sondern literarisch. Denn ihre Romane sind alle hochpolitisch in diesem Sinne, wo es nicht um Parteipolitik geht. So auch hier.



Deutungshoheit. Deutungshoheit ist in der Geschichte und in der Politik ein vorrangiges Interesse. Denn derjenige, der Geschichten als Wahrheiten ungehindert sagen darf, der befreit oder umnebelt die Gehirne der Menschen. Deutungshoheit in der Geschichte zudem heißt, daß ich Gegenwart aus der Erkenntnis der Vergangenheit werten darf. Wenn auf der Umschlagklappe hinten also WEM GEHÖRT DIE GESCHICHTE ? gefragt wird, stehen wir mitten drinnen. Eigentlich wäre uns dieser Junge, dieser Filippo, ein 22jähriger Kleinganove, Mitglied in einer Gang in Rom,der geschnappt wurde und sitzt, gar nicht sympathisch, aber wenn er dann quasi aus Versehen mit dem richtigen und wichtigen Carlo, dem Widerstandskämpfer gegen das Unrecht, quasi als Wäschestück bei dessen Befreiungsaktion ebenfalls in die Freiheit flüchtet, dann hat das was. Schnell merkt er, daß der von ihm verehrte Carlo – nein, es geht nicht um den in Frankreich schuldig verurteilten Carlos – wichtige Helfer hatte, die aber durchaus zwielichtig sind.



Filippo Zulinai muß Angst um sich haben, Angst, daß er in Italien schnell wieder einkassiert wird und entschließt sich diejenige aufzusuchen,deren Adresse ihm Carlo verriet: dessen alte Freundin in Paris. Die nun nimmt ihn säuerlich auf, denn der junge Mann ist allzu unbedarft. Wer weiß, ob das stimmt, was er vom Ausbruch faselt. Das findet auch deren Exilumgebung. Aber das wird sich ändern. Und alleine mit diesem Lernen, das der wiefe Adapt da hinbekommt, indem er während seiner Arbeitszeit, Nachtwache in einem Büroturm, die Geschichte seiner Freundschaft mit Carlo blumenhaft erweitert und konkret von der Flucht erzählt, führt ihn zu einem Buch, das allseits bestaunt zum Kassenknüller wird.



So macht sich Filippo zu einer neuen Persönlichkeit, die auch Frauen, vor allem eine besonders interessiert. Da ist Manotti wirklich ein Husarenstückchen gelungen, denn sie läßt uns bei dessen Verwandlung von einem X-Beliebigen in einen fast sensiblen Literaturn dabei sein und erst als das Unheilt zu ahnen ist, wissen wir, warum sie das so macht. Denn das, was ganz ohne Filippo in Italien passierte, Bankraub u.a., das wird ihm jetzt zur Last gelegt und die literarischen Aussagen fesseln ihn auf einmal selbst. Kann er überleben? Auf jeden Fall geht es um einen kleinen Fisch, der zu einem großen wird, weil die Umstände dies so erzwingen. Mehr nicht. Denn wir nehmen die Bitte ernst: „Und bitte nehmen Sie anderen Lesern nicht die Spannung, indem Sie den Täter bzw. die Auflösung verraten.  



Zum Neuling auf Platz 5, zu Leonardo Paduras KETZER aus dem Unionsverlag können wir noch nichts sagen. Das folgt. Auf den 6. Platz vorgerückt ist Karim Miské mit ENTFLIEHEN KANNST DU NIE, herausgebracht von Bastei Lübbe. Wie gut uns dieses Buch gefällt, haben wir in den vergangenen Monaten schon detaillierter dargelegt. Auch WÜSTE DER TOTEN von Urban Waite, erschienen bei Knaur, muß warten. Dieser Krimi hat, was selten passiert, seinen siebten Rang behalten, während es David Peace mit GB 84 aus dem Verlag Liebeskind vom ersten auf den achten Rang verschlagen hat. Ja, diese Jury, da kommt man nicht immer mit, wieso und weshalb es runter oder rauf geht. Vielleicht, weil dieser Krimi das dritte Mal dabei ist. Das nächste Mal mehr davon.

 

Tatsächlich betrifft dies – das dritte Mal und ein hier leichterer Absturz, nämlich von Platz 3 auf den 9. Rang - auch IN ALMAS AUGEN von Daniel Woodrell, ebenfalls bei Liebeskind erschienen, die sich mit besonderer Häufigkeit auf der KrimiBestenListe behaupten, wozu wir gratulieren. Nun sind wir ein ausgesprochener Fan von Woodrell, durch den wir ein anderes Amerika kennengelernt haben, nämlich arme Leute und die vom Land. Dabei denken wir vor allem an WINTERS KNOCHEN und DER TOD VON SWEET MISTER, ebenfalls bei Liebeskind erschienen. Doch, auch diese Geschichte hat uns gefesselt. Wer vermag es, weit über 100 Seiten zu schreiben, ohne daß das Verbrechen wirklich angesprochen wäre.

 

 

Ganz am Anfang, da wird etwas angedeutet, von einem Riesenbrand einer Festgesellschaft , was nie aufgeklärt wurde, über dessen Ursache aber die Schwester der Toten, diese Alma, lange schweigt, bis sie – im Buch auf Seite 175 - überläuft: „ Die Geschichte kam einfach aus ihr heraus. Sei brach hervor, floß dahin in Tropfen, Rinnsalen und Kaskaden schon bekannter Einzelheiten, in alten Anspielungen und blanken Vermutungen. Alma erzählte mir ihre Version der Tragödie...“. Wir sind dem gespannt gefolgt und auch dieser Woodrell hat uns eingegefangen, allerdings nicht so poetisch hochgestimmt wie beispielsweise WINTERS KNOCHEN, was natürlich unfair zu vergleichen ist. Woodrell schreibt auf sehr sinnliche Weise. Man hat beim Lesen ständig die Bilder dazu im Kopf. Er ist einfach einer, der die Drehbücher schon als Romane fix und fertig hat.

 

Auf  Platz 10 steht neu DIE TOTE VON SAN MIGUEL von Jonathan Woods. Da übernehmen wir, was Tobias Gohlis weitergegeben hatte. Das nächste Mal unsere eigene Einschätzung: San Miguel de Allende im Bundesstaat Guanajuato ist eine billige Absteige für amerikanische Künstler, Kiffer und Kokser. Als das Künstlermodell Amanda ermordet und ohne Augen auf dem zentralen Platz gefunden wird, rafft Inspektor Diaz seine schwachen Kräfte zu Ermittlungen auf. Woods, der erst mit 60 zu schreiben begonnen hat, liefert ein paar interessante Varianten zum US-mexikanischen Verhältnis. „Ein rundum erfreuliches Buch, das entspannt zeigt, dass man die rauen, rohen und derben Ursprünge der Kriminalliteratur "von unten" durchaus elegant und mit Esprit auch heute noch fruchtbar machen kann, wenn sich "oben" die Verhältnisse allzu etabliert haben. Kriminalliteratur ist nicht mainstream, Bücher wie das von Jonathan Woods erinnern vergnüglich daran.“ (Thomas Wörtche)

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Mai 2014

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(2)

Oliver Bottini: Ein paar Tage Licht

DuMont, 512 S., 19,99 €

Algerien/Deutschland. Deutscher Ingenieur von Islamisten entführt! BKA-Mann Eley und algerische Militärs suchen fieberhaft. Parallel in D: Politgerangel um Rüstungsexport. Interkulturelle Liebschaften, demokratische Terroristen – ausgefuchster Politthriller, erhellend durch Möglichkeitssinn.

2

2

(-)

Ross Thomas: Fette Ernte

Aus dem Englischen von Jochen Stremmel

Alexander, 344 S., 14,90 €

Washington D.C. Bevor er das Komplott aufdecken kann, von dem er auf der Club-Toilette gehört hat, wird Ex-Präsidentenberater Gilmore umgelegt. Höchst geschickt forschen seine Erben nach. Grotesker Witz, stilvolle Briganten, große Schwindel: Ross Thomas hatte es drauf wie kaum einer.

3

3

(-)

Dominique Manotti: Ausbruch

Aus dem Französischen von Andrea Stephani

Argument/Ariadne, 256 S., 17,00 €

Mailand/Paris 1987-88. Carlo, Kämpfer der Roten Brigaden, und der Kleinkriminelle Filippo fliehen aus dem Knast. Carlo stirbt, Filippo gewinnt die Herzen der Linken mit seiner Romanversion der Ereignisse. Bis die Realität die Aufstiegsträume kalt erwischt: illusions perdues.

4

4

(10)

Mukoma wa Ngugi: Nairobi Heat

Aus dem Englischen von Rainer Nitsche

Transit, 176 S., 19,80 €

Maple Bluff, Wisconsin/Nairobi. Der Fall einer toten Blondine vor der Haustür des ruandischen Menschenrechtlers Professor Joshua führt Detective Ishmael von Wisconsin nach Nairobi. Dort lernt er mehr über Identität, Gewalt, Geld und Gewissenlosigkeit, als ihm lieb ist. Starkes Debüt.

5

5

(-)

Leonardo Padura: Ketzer

Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein

Unionsverlag, 656 S., 24,95 €

Havanna/Amsterdam 1939, 1648, 2007. Paduras Triptychon breitet jüdische Geschichte, Rembrandts Kunst und kubanische Jugendrevolte zwischen zwei Kriminalfällen aus, vertrauter Ermittler: Mario Conde. Ohne Ketzer, die die Normen brechen, keine Freiheit: Interkontinental aktuell.

6

6

(8)

Karim Miské: Entfliehen kannst Du nie

Aus dem Französischen von Ulrike Werner

Bastei Lübbe, 336 S., 8,99 €

Paris/New York. Salafisten und Chassiden in La Villette: Zusammenknall der Fundamentalisten. So scheint es, als Laura, abtrünnige Tochter von Zeugen Jehovas, auf ihrem Balkon ausblutet. Im Kern dieses Rohdiamanten von Roman stecken Wut, Drogen, Freud und Ellroy. Arab Jazz!

7

7

(7)

Urban Waite: Wüste der Toten

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Knaur, 378 S., 9,99 €

New Mexiko. Ein letzter Job, damit Ray Lamar nach Hause zurückkehren kann. Der Überfall auf den Drogentransport geht schief, Fahrer und Beifahrer sind weitere Tote, die Ray auf dem Gewissen hat. Düster wie ein Sandsturm: Ein Mann geht aufrecht in den Untergang.

8

8

(1)

David Peace: GB84

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Liebeskind, 544 S., 24,80 €

Großbritannien, großer Streik. Gewerkschaft NUM und Bergarbeiter gegen Thatcher und Zechenschließung. An der Schwelle zum Bürgerkrieg wuseln Gewerkschafter, Politiker, Einpeitscher, Spitzel, Streikbrecher, Mörder. Das Ende der Kohlewelt: kolossal noir.

9

9

(3)

Daniel Woodrell: In Almas Augen

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Liebeskind, 192 S., 16,90 €

West Table, Missouri 1929. Alma, die Magd, hat miterlebt, wie Bankier Glencross sich in ihre Schwester Ruby verliebte und sie verriet. Alma weiß auch, wie es zu der Explosion kam, bei der 42 Menschen starben. Familiengeschichte aus einer Stadt, die fast ein Jahrhundert lang schwieg.

10

10

(-)

 

Jonathan Woods: Die Tote von San Miguel

Aus dem Englischen von Winfried Czech

Aufbau, 272 S., 9,99 €

San Miguel de Allende, Mexiko/Dallas. Amanda, Künstlermodell aus Texas, liegt erwürgt und augenlos im Park des mexikanischen Aussteiger-Eldorados. Inspector Diaz raucht, säuft, vögelt und ermittelt, assistiert von Windgott Ehécatl. Pulp-frech: Diaz schafft Ordnung, sogar in Dallas.

 

INFO I:

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.

 

Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste

- im NordwestRadio am Mittwoch, den 30. April 2014 mit Tobias Gohlis gegen 9.20 Uhr im Nordwestradio Journal sowie später in den Sendungen der Buchpiloten nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html -

in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 30. April 2014 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

 

 

Monatlich wählen siebzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

 

 

 Die Jury setzt sich zusammen aus: 

 

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiZEIT

Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR

Gunter Blank, Sonntagszeitung

Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, »Penser Pulp bei Diaphanes«, »culturmag«, »DRadioKultur«

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2013 ebenfalls kommentierten.

 

JahresBestenliste 2013

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/2343-leichendieb-der-brasilianerin-patricia-melo-von-tropen-bei-klett-cotta-auf-platz-1

 

INFO II:

Auf der LEIPZIGER BUCHMESSE wurde die KrimiZEIT-Bestenliste am Stand von AUSGEZEICHNET vorgestellt. Tobias Gohlis sprach mit Friedrich Ani und Conny Lösch über die KrimiZEIT-Bestenliste und Qualität in der Kriminalliteratur.

Am Freitag, 14. März 2014, Stand 13/Ausgezeichnet in der Glashalle, 16:00 Uhr.