stumme tanzerinTod und Tanz im Wien und Berlin der Zwanziger Jahre, Teil 4/4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – So ist das mit den Zufällen; mitten in die Beschäftigung mit den Berliner- und Wiener Tanz-Tod Zwanziger Jahren, fiel mit dieser Kriminalroman von Helga Glaesener aus dem Rowohlt Verlag in die Hände, der einfach in diesen Kontext hineingehört, nicht, weil der Titel von einer Tänzerin spricht, was eh nicht stimmt, ist es doch eine ermordete Prostituierte, sondern weil Thema des Buches die Selbstermächtigung von Frauen ist, ein weiteres wichtiges Thema der Zwanziger Jahre, was in Hamburg am 15. 8. 1927 zur ersten weiblichen Kriminalpolizei (WKP) führte.

Wie Frauen ihr Hausfrauendasein als Lebensinhalt, ob ausführend oder für die Zukunft vorgesehen, ablegen und berufliche tätig werden, wird in diesem Roman am Beispiel von Paula Haydorn geschildert. Die wohlerzogene Tochter des reichen Hamburger Zündholzfabrikanten hat sich einen Bürojob ergattert, als sie zufällig in eine Razzia gerät, die dem Rotlichtmilieu gilt, und so ins Stadthaus, die Hamburger Polizeibehörde gerät. Da sie Zeugin einer Straftat geworden war, will sie eine Anzeige erstatten, bekommt aber mit, daß gerade eine Kollegin ihren Dienst quittiert und will deren Stelle besetzen, was gelingt.
Warum ihre Eltern fast durchdrehen, als sie dies zu Hause kundtut, versteht man am Schluß noch besser. Es ist nicht nur die geäußerte Abscheu vor dem Schmutz und Schund, dem ihre Tochter bei der weiblichen Kriminalpolizei ausgesetzt ist, sondern die Verwobenheit des gehobenen Hamburger Bürgertums ins besagte Rotlichtmilieu. Es muß sich um die Reeperbahn handeln, denn das dortige Varieté ALKAZAR, das 1925 eröffnet wurde, spielt immer wieder eine Rolle, an das sich zwielichtige, aber eindeutige Etablissements anschließen. Die auf einem Friedhof ermordete Frau stammt von dort und wird zum ersten Fall für Paula, die ob der übel zugerichteten Leiche ihren Schock überwindet und innerhalb der Ermittlungsgruppe die Person sein wird, die den Fall aufklärt, womit sie gleichzeitig in der Position aufsteigt, also dauerhaft bleiben kann.

Dabei hatte ihr Vater in Absprache mit ihrem obersten Chef ihre Entlassung durchgesetzt, weil das Prostituiertenmilieu und Mord nichts für feinsinnige junge Damen seien. Und nur, weil die Mordkommission sich an den Polizeipräsidenten wendet, der diese Institution eingerichtet hatte, wird die Kündigung von ihm zurückgezogen. Wie eine unbedarfte junge Frau zu einer aufmerksamen Ermittlerin wird, kann man hier sehr detailreich nachlesen. Diesen Teil ihrer Aufgabe erledigt die Autorin sehr gut. Wir sind beim zweiten Mord dabei, der in der gleichen Manier mit Entnahme von Organen erfolgt und wo Kundigen der Name Jack the Ripper sofort einfällt, der dann auch im Roman ganz neuer Tätergruppen erschließt.
Eine Hauptrolle, und zwar eine üble, spielt Waldemar Moor, Besitzer des Tingeltangel, in dem die erste Tote beschäftigt war, die auch auf seine Kinder aufpassen soll, bis sie zum „Busenwackeln auf die Bühne“ mußte. Auf der Seite der Ermittler ist es der mit Kriegstraumata belastete Martin Broder, mit dem Paula eng zusammenarbeitet und nach und nach eine emotionale Ebene zwischen Loch und Verständnis findet.

Mit welchen Widerständen in der Behörde, bei den Verbrechern, bei ihrer Familie Paula kämpfen muß, ist aufschlußreich, insbesondere für diejenigen, die wenig über den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung und gleiche Chancen wissen, weil dies zum großen Teil heute selbstverständlich ist. Nie wird dies aufgesetzt vermittelt, sondern ergibt sich aus der Handlung selbst. Immer wieder gerät Paula auch in Lebensgefahr.

Daß auch ihre eigene Familie und der Bruder der Mutter, ein in London ausgebildeter Pathologe in Verdacht gerät, stellt sie vor die Gewissensfrage, wem sie verantwortlich ist. Daß Paula nun am Schluß ausgerechnet eine beste Bürgerin, die aus dem Milieu stammt, aber hochheiraten konnte, als Täterin entlarvt, ist etwas zu dick aufgetragen. Aber vielleicht ist auch dies dem Emanzipationsgedanken geschuldet, daß Frauen nicht nur Kriminalpolizistinnen werden können, sondern auch grausame Verbrecherinnen.

P.S. Die zeitlichen Unstimmigkeiten lassen sich nicht aufklären. In den Kapitelüberschriften beginnt es im Jahr 1926, aber die weibliche Kriminalpolizei ist erst 1927 eingerichtet worden, auf der Rückseite des Buches wird davon gesprochen, daß die Handlung 1928 stattfindet. 

Foto:
Umschlagabbildungen



Info:
Helga Glaesener, Die stumme Tänzerin, rororo 00488, Rowohlt Verlag 2021
ISBN 978 3 499 00488 9