der eindringling gebundene ausgabe jeffery deaverEin Lincoln-Rhyme-Thriller bei Blanvalet

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das waren noch Zeiten, als ich jeden neuen Deaver verschlang und anläßlich seiner Lesetour durch Deutschland ein längeres Interview mit ihm führte – im English Theatre, erinnere ich mich noch. Dann kam lange nichts. Bei mir. Der neue Thriller zeigt: er ist ein verdammt guter Schreiber von Krimis; solide sind sie sowieso, darüber hinaus aber mit so viel technischer Raffinesse angereichert, einem unaufhörlichen Wechselspiel der Personen, die von den Guten zu den Schlechten mutieren, manche wieder zurück zu den Guten und Tätern, von denen einer selber zu uns spricht.

Es ist der SCHLOSSER, der am Tatort auf einer Seite des Daily Herald eine mit Lippenstift geschriebenen Drohung „Abrechnung“ mit dieser Unterschrift zurückläßt, was er uns selber erzählt, weil alle Passagen mit ihm in der Ichform erzählt sind, während die anderen Personen und Schauplätze nur aus der Perspektive der jeweiligen Person wiedergegeben werden. Und das sind viele. Da gibt es den schwerstgelähmten genialen Lincoln Rhyme, der ein technisch hochgerüsteten Labor betreibt, dessen Dienste die New Yorker Polizei NYPD per Vertrag nutzt, bei der seine Frau Amelia Sachs als Ermittlerin in der Abteilung für Kapitalverbrechen beschäftigt ist, so daß beide in der Regel gemeinsam an Fällen arbeiten.

Die dritte wichtige Personengruppe ist der betagte Besitzer des DAILY HERALD, Avarell Whittaker, dessen Sohn Kitt abtrünnig ist, während seine Nichte Joanna seine Stiftung betreibt, mit der er das wiedergutmachen will, was sein reißerisches Schundblatt bei Betroffenen an Leid verursacht hat. Seine Zeitung wird er einstellen.

Natürlich ist auch die Abteilung Kapitalverbrechen der NYPD mit vielen Personen beteiligt, die man aus der Lincoln-Rhyme-Reihe a- ach ja, und Rhyme ist ein Kriminalist, kein Kriminologe!! - kennt. Wirklich stark, wie individuell Deaver alle im Krimi vorkommenden Personen zeichnet! Man hat sie sofort plastisch vor Augen, einschließlich ihres Verhaltens und der Sprechweise. In New York kommt zudem immer der Bürgermeister und sein Anhang hinzu, der auf Wählerstimmen schielt, weshalb er nach einem mißlungenen Auftritt Rhymes als Gutachter diesen als Berater feuert, weil aufgrund seiner Aussagen der Angeklagte, ein Großverbrecher, freigesprochen wird. Das gehört zu den vielen spannend bleibenden Sachverhalten, daß wir ganz am Schluß dann hören, daß dies mit Absicht geschah, um den Großkriminellen mit einem anderen, sehr viel größeren Delikt anklagen und verurteilen zu können.

Das ist sowieso ein Stilmittel des Autors, daß er Sachverhalte mitteilt, die später eine ganze andere Aussage erhalten, ganz anderes interpretiert werden können und müssen, weshalb die Handlung immer im Fluß ist, man bei 494 Seiten aufmerksam bleibt, weil man sonst die Weiterungen nicht verstünde.

Dennoch bleibt der Icherzähler DER SCHLOSSER, die Gestalt, die nach allen Regeln der Kunst psychologisch und in ihrem Handeln, dem EINDRINGEN in fremde Wohnungen vorgeführt wird. Einerseits ist das Buch eine eindringliche Anleitung, wie man Schlösser knackt, unglaublich, wie detailliert das beschrieben wird, was man sofort vergißt, was aber den Roman wirklichkeitsnah macht!, andererseits ein Psychogramm eines schwer Gestörten, den man nicht auf die Gesellschaft loslassen darf.

Er kundschaftet Frauen aus, deren Gewohnheiten, deren Wohnverhältnisse einschließlich Türschlösser, wobei er die durch deren Internetauftritte in den sozialen Medien kennenlernt. Dazu hat er beruflich die die besten Gelegenheiten, denn er ist 'Inhaltsmoderator', was heißt, daß er für seine Firma ViewNow, You Tube vergleichbar, alle Videso daraufhin durchsuchen muß, ob sie Inhalte zeigen, die von ihm sofort aus dem Netz genommen werden müssen.  Da ist sozusagen der Bock zum Gärtner gemacht worden, denn er nutzt seine Infos zum Eindringen in die Wohnungen. Er  sucht sie nachts heim, läßt sie schlafen, aber verteilt ihre Sachen neu im Raum und entwendet Höschen und mindestens ein Messer. Doch, er bemerkt es an sich, er ist zunehmend  bereit, auch zu morden….

Daß mit der Entdeckung und Festnahme des  SCHLOSSERS durch Rhyme/Sachs auch der gefunden wird, der bei der Morduntersuchung von Rhyme, mit der der Roman anfängt, der Mörder war, rundet die Sache. Und Rhyme kam nur darauf, weil beim Opfer keine Abwehrspuren gefunden wurden.

Und als man glaubt, jetzt mit dem Täter sei der Krimi zu Ende, geht es nochmal richtig los. Das war mir dann fast zuviel, denn jetzt wird das Unterste zuoberst gekehrt und es geht um die internen Verhältnisse bei Polizei und Stadtregierung, wo jede Person erneut auf dem Prüfstand steht und so mancher anders herauskommt, als man ihn zuvor eingeschätzt hatte. Öffentlich und auch der Leser.  Aber, sagt man sich am nächsten Tag, hier hat Jeffrey Deaver mit einem Rundumschlag wirklich alles behandelt, die Verhältnisse neu geordnet, die beim nächsten Fall dann den Ausgangspunkt bilden. Spannend, verblüffend, ja irre mit absoluter Lust auf den nächsten Deaver. Ich bleibe dran.

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Umschlagabbildung

Info:
Jeffery Deaver, Der Eindringling. Ein Lincoln-Rhyme-Thriller, Blanvalet, 2023
ISBN 978 3 7645 0841 8