TRIBUNAL– ein Thriller von André Georgi aus dem Suhrkamp Verlag
Martina Ober
Mainz (Weltexpresso) - Gemeint sind hier die elf Pfeiler der Brücke über die Drina nahe der Stadt Višegrad, auf der 1992 die Massenhinrichtung von 3953 Moslems durch eine paramilitärische serbische Einheit, die Wölfe genannt, stattfand.
Dieses Verbrechen sowie zahllose Vergewaltigungen, begangen während der Jugoslawienkriege, werden Marco Kovac zur Last gelegt. Als ehemaliger Chef einer paramilitärischen Einheit in Serbien, die Wölfe genannt, muss sich Kovac jetzt 2005 vor dem Kriegstribunal in Den Haag verantworten. Auch 13 Jahre danach verfügt er in Serbien noch über eine große Anhängerschaft – auch in Politikerkreisen. Eine kleine Einheit der „ Wölfe“ agiert immer noch im Untergrund und sorgt dafür, dass mögliche Zeugen umgebracht oder durch Repressalien gefügig gemacht werden.
Bei einer solchen Aktion haben sie übers Ziel hinausgeschossen und die Schwester und einzig lebende Verwandte eines der ehemals führenden Köpfe der „Wölfe“, Orescovic, gefoltert und umgebracht. Orescovic, schon lange nicht mehr auf Kovacs Seite, will jetzt Vergeltung und stellt sich als Zeuge gegen ihn zur Verfügung. Endlich scheint Bewegung in den Prozess zu kommen.
Es ist die Topermittlerin des Tribunals, Jasna Brandic, die den Auftrag erhält, Orescovic in seinem Versteck in Albanien aufzuspüren und als Kronzeugen lebend nach Den Haag vor das Tribunal zu bringen. Auch wenn der Leser erst nach Erfüllung dieses Auftrags ins Geschehen eingeführt wird, ist offensichtlich, um welch großartige, für Brandic und ihre Männer aufreibende Leistung es sich hierbei gehandelt haben muss. Hat es doch 17 Monate gedauert, Orescovic lebend vor die Tore von Den Haag zu bringen.
Hier setzt das Buch ein. Es führt den Leser gleich zu Beginn mitten ins Geschehen, stellt das rasante Tempo und die bedrückende Stimmung vor, die bis zum Schluss beibehalten werden. Vielleicht sind es die eigenen serbischen Wurzeln der Hauptakteurin, die den Eindruck aufkommen lassen, dass dieser Auftrag, den zu erfüllen so lange gedauert hat und der kurz vor der Vollendung steht, für Brandic zur Obsession geworden ist. Doch diese Vollendung wird ihr durch mehrere Scharfschützen in unmittelbarer Nähe des Tribunals, durch ein blutiges Attentat auf den Kronzeugen sowie die gesamte Begleitmannschaft verwehrt. Brandicüberlebt als einzige das Attentat.
Zum wiederholten Male ist es Kovac gelungen, einen Zeugen mundtot zu machen. Fast zeitgleich versucht ein ebenfalls zur Aussage bereites Vergewaltigungsopfer, durch den Verteidiger und Kovac selbst in die Enge getrieben, im Gerichtssaal Kovac zu erschießen und richtet – nachdem der Versuch gescheitert ist - die Waffe gegen sich selbst. Brandic, erschüttert von der Geschichte der jungen Frau, deren Freund zu den getöteten Moslems gehörte und die von Kovac und seinem Gefolge vergewaltigt wurde, kann sie zur Aussage vor dem Tribunal bewegen. Diese beiden Vorfälle sind der Auslöser dafür, dass Brandic ihre Chance ergreift, als über einen Informanten die Nachricht kommt, dass sich möglicherweise ein weiteres Führungsmitglied der „Wölfe“ gegen Kovac stellt und bereit ist auszusagen.
Das Gefühl, im Falle von Orescovi und der jungen Frau versagt zu haben, treiben Brandic an, im Alleingang in Serbien nach dem Zeugen zu suchen, der das Ruder herumreißen kann und endlich eine Verurteilung von Kovac möglich macht. Es erwartet sie eine Jagd auf Leben und Tod und eine Konfrontation mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Die Familie ist vor dem Krieg aus Serbien ausgewandert und hat sich in Berlin niedergelassen. Der Vater, der nicht glücklich wurde in der neuen Heimat, eilt nach Kriegsbeginn seiner Mutter und Schwester in Serbien zur Hilfe. Sein Sohn folgt ihm. Vom Vater erfährt man, dass er verstorben sei. Über das Leben des Bruders weiß Brandic wenig.
Es ist ja mittlerweile üblich, dass wir in Krimis nicht nur an der Aufklärung eines oder mehrerer Verbrechen, sondern auch am Privatleben der Hauptakteure teilhaben. So fühlen wir uns in nachfolgenden Romanen gleich vertraut und freuen uns nicht nur auf einen neuen Kriminalfall, sondern sind auch gespannt auf die Fortsetzung privater Ereignisse. Wer das in diesem Buch erwartet, wird sicher nicht auf seine Kosten kommen. Wem das all zu viele Private dagegen eh mißfällt, der ist hier gerade richtig. Es ist nämlich eine temporeiche Aneinanderreihung von Ereignissen und Greueltaten, die in plakativen Bildern beschrieben werden. Es wird nicht viel Platz gelassen für Emotionen. So wird beispielsweise die Beziehung zwischen Staatsanwalt Peneguy und Brandic nur am Rande erwähnt und nimmt kaum Einfluss auf die Handlung.
Durch den sachlichen Erzählstil sichert Georgi das gleichbleibende Tempo und erhöht die Spannung. Das Buch wird zu keinem Zeitpunkt langatmig oder hinterlässt beim Leser das Gefühl, 100 Seiten weniger wären besser gewesen.
André Georgi, geboren 1965 in Kopenhagen, aufgewachsen in Berlin und aktuell wohnhaft in Bielefeld, ist bekannt geworden mit seinen Drehbüchern für namhafte Krimiserien, wie z.B. Tatort und Bella Block. Mit „Tribunal“ legt er seinen ersten Roman vor, der ihm bei den Liebhabern actionreicher Thriller sicher eine große Fangemeinde sichert.