Der Deutsche Buchpreis 2014, Teil 9

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Grundproblematik, nicht so gut zu sehen, was uns sehr nahe ist, das Deutsche, gilt noch am wenigsten für PFAUENINSEL von Thomas Hettche, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, der in der Moderation von Alf Mentzer, hr2-kultur- den selbstbewußtesten Auftritt hinlegte, der schon so begann, daß er kein Buch zum Vorlesen dabei hatte.

 

Im Buch des Moderators wußte er dann sofort, was er lesen wollte. Dieses Detail ist dann interessant, wenn man sah, daß andere ihre Romane mit Zetteln bespickt hatten, von wo bis wo sie lesen wollten. Hettche konnte auch deshalb die größte Gelassenheit haben, weil PFAUENINSEL, die echte Havelinsel vor den Toren Berlins, einerseits im 19. Jahrhundert spielt, also weit weg, als sie den preußischen Königen eigen war, die kleinwüchsige Marie und die Wandlung unserer Anschauungen von Schönheit und Würde zum Inhalt hat, andererseits Hettche diesen Stoff seit Jahren mit sich herumtrug und auf den richtigen Ton wartete, der dann plötzlich ertönte.

 

Jedes seiner Bücher haben einen anderen, eben einen je eigenen Ton und was das Schreiben angeht: „Es gibt Anläße, aber nicht Entscheidungen“. Auch sein Ausspruch: „Wir sagen, die Zeit vergeht. Dabei sind wir die, die vergehen,“, kann man sich zum Zitieren merken. Was man sich auch merken wird, denn es gibt ein taktiles Gedächtnis, ist das ästhetische Vergnügen beim Betrachten des Buches und erst recht das Behagen beim Anfassen. Wie früher, dachte man unwillkürlich, das Leinen, die Farbe, die stilisierten Blüten. Das in die Ohren des Kiepenheuer & Witsch Verlages, ach was, in die anderer Verlage auch, denn hier liegt ja auch ein Beispiel für andere vor. Natürlich wird das teurer, das denken wir uns auch, aber es lohnt. 

 

Ein wirklicher Kontrast dann der Roman 3000 EURO aus dem Rowohlt Berlin Verlag, den Thomas Melle im Gespräch mit Alf Mentzer vorstellte und daraus las. Die Kassiererin Denise, die sich ihr Zubrot als Pornodarstellerin verdient, wartet auf diese Geldsumme von der letzten Filmproduktion. Einer ihrer Kunden – sie wähnt sich von jedem Mann als Sexnudel erkannt und durchschaut – ist Anton, der genau diese Summe braucht, um Schulden zu bezahlen, andernfalls droht das Gefängnis. Als Obdachloser lebt er sowieso schon auf eigenen Wunsch. Beider Leben verwebt Melle durch abfolgende Kapitel ineinander, zuerst bevor sie sich treffen, dann das Treffen, dann das danach.

 

Die Frage nach dem Autobiographischen, die wie die Machart der Romane, dem Abend den Grundton gab, erledigte sich bei Thomas Melle auf chaplineske Art. Er las ausgerechnet die Stelle im Buch vor, die vom übertriebenen Schwitzen der Denise handelt und ihren Strategien, dagegen vorzugehen. Er selbst neigt zum Schwitzen, sagte er zuvor noch ohne diesen Kontext und wischte sich mehrfach den Schweiß von der Stirn. Allerdings hatte er da das Mitgefühl aller im Saal, die schon unten ohne die auf das Podium gerichteten Scheinwerfer angesichts des seit Stunden vollgefüllten Saales schwitzten. Auch wieder ein Zusammenhang von Leben und Literatur. Im Roman nähern sich die so unterschiedlichen Menschen Denise und Anton an, wobei die Milieuschilderungen von Melle schon deshalb beachtlich sind, weil beide Personen in der Regel keine Helden von Romanen sind.

 

KRUSO ist eine ausgesprochene Robinsonade aus dem Suhrkamp Verlag. Felicitas von Lovenberg stellte den Roman, des bisher als Lyriker bekannten Lutz Seiler am Schluß mit dem Hinweis „Großer Favorit für den Buchpreis“ vor. Edgar Bender, genannt Ed flieht aus gutem persönlichem Grund im Jahr 1989 Ostberlin und landet in Hiddensee, dieser Insel in der Ostsee, wo er als Saisonarbeiter im Tourismus Tellerwäscher wird in einer Gaststätte, dem Klausner, in der er von Kruso, Alexander Krusowitsch, in alle Initiationsriten eingeführt wird. Als dann noch im Herbst die DDR in Frage steht, kulminiert alles...

 

Der vierstündige Abend wurde voll Anteilnahme verfolgt und das Publikum reagierte spontan auf jede Äußerung oder auch unterlassene Äußerungen auf der Bühne. Man lernt an einem solchen Abend aber doch mehr die Schriftsteller kennen als die Romane. Das soll ja auch so sein, denn es werden durch Ton und Inhalt Lesereize hergestellt, zumal die Bücher vor der Tür käuflich erwerblich sind – und signiert werden können.

 

Was man nach einem solchen Abend allerdings als Zuhörer nicht kann, wäre eine Vogelschau in dem Sinn, daß man wie die Auguren aus den Auspizien, hier vor allem denen der Moderatoren, den göttlichen Willen, hier den der diesjährigen Jury für den besten Roman und den Buchpreisträger 2014 deuten oder gar herauslesen könnte.

 

Foto: Thomas Melle von Wolf Becker