Die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2014 , Teil 17

Claudia Schulmerich

München (Weltexpresso) – Thomas Hettche ist ein arrivierter Romanautor. Das ist nichts Schlimmes, sondern erfreulich! Daß er 1964 in Hessen, am Rande des Vogelsbergs geboren wurde, auch. Hettche hat sich etwas Bodenständiges, Unaufgeregtes bewahrt. Und daß er gerade für seinen Roman den Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig erhalten hat, finden wir auch gut.

 

Wenn mit der PFAUENINSEL schon der zweite Inselroman (mit London/England als Standort bei Gertrud Leutenegger sogar drei Inseln!) von sechs ausgewählten Romanen vorliegt, muß man sich keine Gedanken machen. Denn anders als Ed und Kruso in KRUSO, die wirklich auf die Insel flüchten, steht hier die Insel selbst, die Pfaueninsel, im Mittelpunkt, deren Geschichte und Leben im frühen 19. Jahrhundert wir hier nachleben. Denn als historischen Roman legt Thomas Hettche diese Pfaueninsel als ein künstliches Paradies an, das für die Kommenden zu einem Sehnsuchtsort wird.

Daß sich dies übrigens das letzte Mal mit großer Sause die Nationalsozialisten zu eigen machten, die hier den Erfolg der Olympischen Spiele feierten (haben das die DDR-Oberen auf der Pfaueninsel gemieden?), zeigt ja nur, daß Hettche eine durchaus notwendige Geschichtslektion auf poetische Weise erteilt. Denn die eigene Geschichte zu vergessen, ist so ziemlich das Dümmste, was sich eine Bevölkerung leisten kann. Wir als in Westdeutschland Aufgewachsene, wennschon in Berlin geboren, kannten das alles nicht und verstehen nun die Pfaueninsel als Sehnsuchtsort für die Dortigen.

Das geht nur, wenn die Insel über solche identitätsstiftenden Orte, Bauten, Gärten, Wälder, Wiesen, Ufer, ja auch Schlösser verfügt, wie das, in dem die Heldin, das kleinwüchsige Schloßfräulein Maria Dorothea Strakon lebt und glücklich sein will. Was gehört zum Glücklichsein und gehört für eine Kleinwüchsige vor 200 Jahren etwas anderes dazu? War es in einer Welt, in der das Aussehen nicht diese fast ausschlaggebende Bedeutung hatte wie heute (diese ganzen irren Fernsehshows, wie Menschen, meist junge Mädchen, abgerichtet werden auf ein – angebliches – Schönheitsmodell), leichter zu leben außerhalb der Norm?

Ehrlich gesagt, wissen wir das zu wenig, wissen es sehr viel besser für die Frühe Neuzeit, wo anders zu sein, positiv gesehen wurde und eine Sensation versprach. Dem nachzuspüren, wie es früher war, damals auf der Pfaueninsel, ist ein Motiv von Thomas Hettche, dem der Leser gerne folgt. Er habe, betont der Autor immer wieder, seinen Stoff schon vor 20 Jahren gefunden, aber auf den Ton gewartet, in dem er den Roman niederschreiben konnte, weil alle seine Werke einen je eigenen Ton hätten.

Wie ist nun dieser Ton? –„‘Aus der Uckermark‘, erzählte der alte Hofgärtner gerade, ‚kam letzthin ein Ziegenbock, der Zitzen gleich gewöhnlichen Ziegen hat, und aus denen auch mit Leichtigkeit Milche gemolken werden kann.‘“. (180) Hier ist es das Thema, was die Natur alles hervorbringt, was ins Erzählerische flutet. „Das Weihnachtsfest 1830 stand bevor. Marie saß starr in ihrem Hochstuhl am Eßtisch. Keinen Bissen des Mittagessens hatte sie angerührt, die Tante ihren Teller wortlos weggenommen, und als alle aufgestanden waren, war sie einfach sitzen geblieben. Es war ein dämmriger Tag, an dem es nicht richtig hell werden wollte, und Ferdinand Fintelmann, der den Nachmittag in seinem Arbeitszimmer über dem Jahresbericht für…“ (225), führt uns unmittelbar in den Ton, den wir von Fontane und seinen Vorläufern in der Romantik kennen, wo Zeit und Muße vorhanden sind, daß die Menschen sich inmitten anderer Menschen und in der Natur wahrnehmen und sich entsprechend verhalten. Fintelmann war übrigens derjenige, der dem preußischen König die Insel zum irdischen Paradies gestaltete.

Der Ton übt auf den Leser insofern einen Einfluß aus, als man selbst glaubt, mehr Zeit zu haben, als man sich sonst zum Lesen oder Schreiben zugesteht. Warum man dieses Buch aber so gerne in die Hand nimmt, hängt noch mit etwas anderem zusammen: der äußeren Gestalt des Romans. Der blaßblaue, nein blaßgrüne, nein irisierende seidene –leinerne, irgendwie gräuliche Einband mit der weißen Pfauenfeder obendrauf, deren Kopf ausgespart den Titel formuliert und so insgesamt an eine Vulva erinnert, der ist einfach schön. Ein Handschmeichler. Großes Lob an den Verlag, der so das Buch auf seine Weise adelt.



Was die Jury des Deutschen Buchpreises dazu meint:

Die Pfaueninsel in der Havel ist ein künstliches Paradies. Der Roman beginnt wie ein Märchen: mit einer Königin, die einen Zwerg trifft und sich fürchterlich erschrickt. Am Beispiel der kleinwüchsigen Marie, die zwischen den Befreiungskriegen und der Restauration, zwischen Palmenhaus und Menagerie, Gartenkunst und philosophischen Gesprächen aufwächst und der königlichen Familie bei deren Besuchen zur Hand geht, erzählt Thomas Hettche von der Zurichtung der Natur, der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit und der Empfindsamkeit der Seele und des Leibes.



INFO: Thomas Hettche, Pfaueninsel, Verlag Kiepenheuer & Witsch

 

Vergleichen Sie auch die Berichterstattung der Lesungen der Finalisten aus dem Literaturhaus Frankfurt:

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/3565-vorstellen-und-lesen-der-finalisten-im-literaturhaus-frankfurt



http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/3565-vorstellen-und-lesen-der-finalisten-im-literaturhaus-frankfurt



http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/3567-im-literaturhaus-frankfurt-hettche-melle-seiler



Der Deutsche Buchpreis wird am 6. Oktober abends im Kaisersaal des Frankfurter Römer bekanntgegeben und verliehen.



Der Börsenverein teilt mit: Die Preisverleihung im Live-Stream mitverfolgen

Wer gewinnt den Deutschen Buchpreis 2014? Zuschauer können von zuhause oder unterwegs aus live dabei sein, wenn am 6. Oktober 2014 der Preisträger oder die Preisträgerin bekanntgegeben wird. Unter www.deutscher-buchpreis.de wird die Preisverleihung ab 18 Uhr in Bild und Ton übertragen.

Mit dem Deutschen Buchpreis 2014 zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Förderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind zudem die Frankfurter Buchmesse, Paschen & Companie und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur übertragen die Preisverleihung live im Rahmen von „Dokumente und Debatten“ auf den LW 153 und 177 kHz, per Livestream im Internet unter www.deutschlandradio.de sowie im Digitalradio DAB+.