LITERATUR IM RÖMER. Frankfurter Buchmesse 8. bis 12. Oktober 2014, Teil 16

 

 Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dem Nachschauen also, was vor allem die Ausgangssituation ist, gilt ein Interesse. Nach flüchtigem Hören, Sehen und Verarbeiten wird eine Geschichte zu Stichworten, die vielleicht beim Lesen des Ungelesenen, beim Ankommen oder Abbrechen der erzählten Geschichte enden könnten. Bedingung daher wie für den vorherigen Teil: ohne Gewähr!

 

5. Sherko Fatah, 'Der letzte Ort' (Moderation: Gerwig Epkes)

Der Roman steht seherisch ganz vorn in der aktuellen Entwicklung. Das Thema: Entführung durch Islamisten (Islam als billiger Vorwand für kaltblütigen Mord), durch Terror-Milizen, die jegliches menschliches Sein restlos hochjagen.

 

Das stellt den Sinn des Reisens auf den Kopf, das Vertrauen braucht, um Fremdes zu erkunden, schätzen zu lernen. Aufgefangener Sinnspruch : 'entführt im Weltraum des absurden Lebens'. Man weiß nicht, warum man entführt ist und man weiß nicht mehr, wem man überhaupt noch trauen kann. Gesellschaft wird in ihrem Fundament untergraben, letztlich auch die der Täter. Sie reiben sich selbst untereinander auf (was noch bevorsteht).

 

Albert wurde entführt, Osama ist sein Übersetzer. Es bleibt nicht beim Einmalentführtsein. Das Ausgeliefertsein wird potenziert. Das Motivbündel der Ursachen ist komplex.



6. Reiner Stach, 'Kafka: Die frühen Jahre' (Moderation: Sigrid Löffler)


Reiner Stach ist nunmehr 18 Jahre Kafka-Biograph. Kafka hat selbst schon den Grund für die heute erkannte Unerschöpflichkeit seiner Arbeiten im Hinblick auf Auslegung und Neu-Interpretation gelegt. Kafka war kein Frosch und durchaus kein des Lebens Untüchtiger. Max Brodt wurde sein Freund und Nachlaßverwalter. Das Ehepaar Kafka war keineswegs unglücklich. Man reiste nach Paris und wusste, wie man fröhlich sein kann.

 

Kafkas Methode war, Situationen zu erfassen, auf die er sich bezog, auch durch sein Schreiben. Die Beobachtung des Reagierens anderer war es also, ähnlich wie bei Chaplin, was ihn so innig trieb. Als passionierter Kinogänger hat er Kinoszenen präzise studiert. Er verbrachte 'Nächte im Kino'. Was ihn beispielsweise interessierte war nicht die Bewegung des Flugzeugs während einer Flugschau, auch nicht der Pilot so sehr, sondern die Menschen unten am Boden, wie sie auf das Fliegen reagieren und mit diesem gehen.

 

Kafka ist einer der am meisten Interpretierten, auch für Zwecke der Psychoanalyse, des Surrealismus, der religiösen Motivkreise. Situationen der alltäglichen Existenz, mithin des Grotesken darin, sind oft so wenig bestimmbar vom Subjekt; von dieser Ausgeliefertheit wusste Kafka minutiös zu sprechen und das Situative wiederzugeben.

Heute ist er aktueller denn je, wenn es darum geht, z.B. Diktaturen und deren Personal zu durchleuchten, zu beobachten, zu erkennen - was es so treibt. Die gegenwärtige Hydra des Überwachens hätte ihn wohl wenig erstaunt oder überrascht.

 

  1. Artur Becker, 'SiebenTage mit Lidia' (Moderation: Gerwig Epkes)

    Dieser Abschnitt musste leiden, denn der Autor war mit einem schwer gängigen Mikro akustisch unterversorgt. Auch schien er leicht eingeschränkt, weil schon zu lange des Tages mit Gesprächen und sich auf der Messe Präsentieren unterwegs.

    Angekommen ist aber der Begriff 'Novelle Venedig' und 'Immigration'. Die Formulierung: 'Umwandlung beim Sprach-Überwechseln' und 'den Zauberberg nicht unbedingt einholen müssen', gesprochen vom Moderator, haben doch eine kleine Verständnismarke hinterlassen. Klar, dass der Autor eingewandert ist. Aber wer kam nicht irgendwann einmal eingewandert zum Siedeln hierher.



    8. Olga Grjasnowa, 'Die juristische Unschärfe einer Ehe' (Moderation: Sigrid Löffler)

    Mit dieser Autorin kam der Abend zu einem Höhepunkt, zu einer Bestimmung seines Auftauchens in neueren, gegenwärtigen Zeitläufen, denn der Roman birgt vieles an verbalen und requisitären Insignien und Motiven des aktuell Zeitgeistigen, und zwar über ganz Kontinentaleurasien hinweg und sogar auch über den großen Teich.

    Er spielt in Aserbeidschan, geht von dort aus, reicht aber bewußtseinsmäßig weit in die übrige weite Welt. Er wäre insofern kosmopolitisch zu nennen. Im dem alten Land ist, wie Sigrid Löffler nachzeichnet, eine 'transnationale Jeunesse dorée' unterwegs, die ihrem Wesen nach, vielsprachig, vielstudiert und multinational gepolt ist, während das flache Land aber weiter dort steht, wo man es trotz Veränderungen hat stehen gelassen. Der Unterschied zwischen denen, die über ihre Netzwerke und sagenhafte Reichtümer verfügen und den Vergessenen in den Vorortzügen und vernachlässigten Abteilen ist riesig.

    Es werden extravagante Probleme behandelt, ganz außerordentliche, mit dem auf sich selbst zentrierten Ich befasste Problemlagen bewegt. Ein 'abgebrühter Ton, zynisch, cool' wird angeschlagen. Wie eben in jeglicher neu entstandenen Jugend, die sich im Gang neuester Geschichte und Entwicklung aufgehoben und an der Spitze obenan platziert weiß.


Gleichwohl, wird nicht doch etwas versteckt, ist nicht doch eine Ausweglosigkeit zu beklagen, denn für Leila, mit dem 'perfekten Körper' und ihrem ostentativen 'Körperfetischismus', bleiben die Männer, die an der Macht sind, weiter an der Macht.

Die 'Sehnsucht nach dem ultimativen Kontrollverlust', nach so etwas wie 'Exzess' ist sehr angesagt. Das Rauschhafte und Orgiastische, ist es Ersatz für ein verhindertes Leben, das einmal als „das richtige“ zu charakterisieren war?

Der Ballerina bleibt die Begrenzung des in diesem Falle auch weiblichen Körpers unübersteigbar. Das Bild des Tanzes und der Exaltation bildet die Verkörperung des Dilemmas einer ins Neue drängenden verabredeten Gruppe. Die Autorin hatte sich auf die Einübung in die Technik des Tanzes eingelassen. Zur treffenden Illustration der Lage der neu-postmodernen Gesellschaft wurde am Schluss die Sentenz: 'In der S-Bahn nachts zum Krankenhaus' sprichwörtlich.

 

 

Das Gemeinsame der behandelten Titel sind: die anderen Lebenskonzepte, die anderen Lebensentwürfe, die anderen Biographien, seien sie nun gewählt, verhängt, aufgedrängt oder mehr oder weniger aufgezwungen. Diese anderen, von der Mehrheit nicht genügend erkannten, geachteten und geschätzten Leben waren schon immer Gegenstand von Literatur. Literatur verschafft diesen aufgegriffenen Leben die Achtung, die ihnen sonst versagt blieb. Autorinnen und Autoren retten auch die übergangene und missachtete, die vereitelte Selbstachtung der ihr Leben meist doch Erleidenden. Ein Anteil Selbstbiographie webt sich doch immer auch selbst dabei ein.

 

 

INFO:

 

Literatur im Römer 2014

 

20.00 Uhr (Einlass um 19.15 Uhr), in den Römerhallen, Römerberg 23, 60311 Frankfurt – Eintritt frei!

 

MITTWOCH, 8. OKTOBER

 

Sabrina Janesch "Tango für einen Hund"

Lutz Seiler "Kruso"

Bodo Kirchhoff "Verlangen und Melancholie"

Robert Seethaler "Ein ganzes Leben"

Sherko Fatah "Der letzte Ort"

Reiner Stach "Kafka: Die frühen Jahre"

Artur Becker "Sieben Tage mit Lidia"

Olga Grjasnowa "Die juristische Unschärfe einer Ehe"

Moderation: Sigrid Löffler, Gerwig Epkes (SWR 2)