Literatur der Erinnerung auf der Frankfurter Buchmesse 8. bis 12. Oktober 2014, Teil 26
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – 20 Jahre nach dem Ruanda-Genozid ist am 12. Oktober die Frage:Welcher Mechanismus bringt Menschen dazu, ihre eigenen Artgenossen abzuschlachten? – Unvermindert aktuell im Geschichtsprozess, Untaten, die noch der Erklärung harren. Sind die Auslöser Zivilisation, Kultur oder Natur ?
Auf der Bühne:
Scholastique Mukasonga (Ruanda/Frankreich), seit 1973 im Exil.
Roman 'Die Heilige Jungfrau vom Nil' (Prix Renaudot), Wunderhorn, 2014.
Lukas Bärfuss (Schweiz), Dramatiker und Autor.
Roman: 'Hundert Tage“ (Mara Cassens-Preis), Wallstein, 2008.
Moderation: Dr. Manfred Loimeier (Mannheim), Journalist und Dozent für afrikanische Literaturen.
Kooperation: Institut français, Deutschland. Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Litaratur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Mukasonga
Der Roman der Autorin Scholastique Mukasonga 'schildert die Hintergründe der aufkommenden Gewalt' 20 Jahre nach dem Genozid an der Volksgruppe der Tutsis, begangen durch Hutus im Ruanda der 90er Jahre. Scholastique Mukasonga lebte seit 1973 im Exil. Sie gilt als frankophone Schriftstellerin aus Westafrika.
Ihr Roman bedient sich der Schreibform des Tagebuchs. Er ist fiktional wie auch schildernd. Die Autorin ist keine Zeugin mit dem Außenblick, sondern ist seit ihrer Kindheit mit ihrem Innersten dabei gewesen. Schon in den 60er Jahren erlebte sie, ab 3 bis 4 Jahren, Diskriminierung. Tutsis wurden nach und nach deportiert. Es bahnte sich also schon damals etwas Unheilvolles an. Fest eingeprägt ist ihr die vom gegnerischen Klientel aufgedrückte „Identität“, die sie mit dem Wort 'Kakerlaken' wiedergibt - durch Hutus ausgesprochen.
Bärfuss
Der Roman des Schweizer Autors Lukas Bärfuss wirft den Blick auf den Genozid aus einem Blickwinkel der mit Ruanda historisch verbundenen Schweiz. Durch die geformten Beziehungen aus kolonialer Zeit wurde Ruanda auch als 'Schweiz im Herzen Afrikas' bezeichnet. Ruanda hat literarisch mannigfaltige Beziehungen zur Schweiz. Schon mit Beginn der 80er Jahre galt Ruanda als 'zerrissen'; 'der Diktator' hatte sich an die Macht geputscht.
'Entwicklungskarrieren', die in Frankreich begannen, huben zuerst in Ruanda an. Um das Jahr 1990 bestand eine Vielzahl von entwicklungspolitischen Projekten diesbezüglicher Organisationen, die in der Schweiz ihren Ausgang nahmen.
Mukasonga
Mukasongas Roman behandelt die Erfahrung in den Jahren vor dem Genozid. Die Form arbeitet mit fiktionalen Personen. Sie meint, dass diese Gattungsform besser geeignet ist, Erfahrung in Worte zu fassen als etwa bloßes Schildern oder Abbilden. Literatur ist ein formbildender, sehr eigentümlicher Prozess der Bewahrung, der Wiedererweckung und der Rettung von Erfahrung, ein spezifisches In-Worte-Fassen (des Erinnerns). Literarische Dignität formt sich in einer Zusammen-Gesetztheit von Fiktion und Erfahrung.
Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Sie hat ihre Familie verloren.
Der Genozid begann, schaut man zurück, eigentlich schon 1959. Die Ausrottung, das Verdrängen, das Vertreiben ist das Ziel immer gewesen. Ist dies eine virile Tradition, dies Handeln? Eine schlichte Vorhersehbarkeit war gleichwohl nicht eindeutig gegeben.
Bärfuss
Es ging die Frage an ihn: warum ist über das Thema nicht ein Theaterstück entstanden? Das zu Bewältigende bewegt sich nach seiner Einschätzung auf der Kippe zwischen Affekt und Organisiertheit. Ruanda schien eigentlich lange sicher. Dann trat das Unfassliche doch ein. Es ist eine der Tragödien der Menschheit. Diese sehr zuständige, passende Redeweise ist mit den verschiedentlichen Erklärungen von Eli Wiesel verbunden, die wohl kaum einen Abschluss finden dürften. Ein Moment dieses Kontextes: was geschieht mit den sonst so ganz Normalen, wenn sie sich urplötzlich in Mörder verwandeln? Menschen scheinen innerhalb weniger Sekunden in die Rolle von Extremisten überwechseln zu können. Spekulativ wird oft darauf abgestellt, dass moderner Weltstress, in Verbindung mit Weltformwechseln, Exzesse zu begünstigen scheint.
'Die Lücke' - ist der Anlass für den Romancier, seine Erklärungsarbeit zu beginnen.
Ruanda und die Schweiz hatten so besonders enge Beziehungen; sie waren beide klein, aber sie fielen dann verschieden aus, trennten sich.
Mukasonga
Ein Land schien vorher in Frieden zu existieren, dann wurde es gespalten. Die Autorin war während des Genozids nicht in Ruanda. Für sie war klar: die Gründe und Mechanismen des Mords an einem Volk ergründen zu helfen, musste zu ihrem Part werden. Macheten in den Händen der Mitbürger, eine alte Mordtechnik, heute immer noch an der Tagesordnung und etwas völlig Unbegreifliches, wo doch religiöse Traditionalisten den Menschen immer noch als so eigens geschaffenes, gottähnliches Wesen propagieren und den Neandertaler - und was zeitlich davor liegt - so abzuwerten pflegen, was schon den menschlichen Hochmut andeutet.
Zur Aburteilung und Genugtuung im Sinne der Opfer und den Richtlinien des 'Weltgerichts' ist die traditionelle, robuste Justiz einzusetzen. Was auch mittlerweile geschehen ist.
INFO:
Aktueller Link um Thema:
http://www.taz.de/UN-Voelkermordtribunal-fuer-Ruanda/!146827/
Titel: 'Parteichef des Genozids schuldig'. Eine Foto-Unterschrift lautet:
'Weltgericht für Völkermord: Richter am UN-Ruanda-Tribunal'. Bild: reuters
Scholastique Mukasonga, 'Die Heilige Jungfrau vom Nil', Wunderhorn, 2014
ISBN-10: 2-07-045631-4
Lukas Bärfuss, 'Hundert Tage“, Wallstein, 2008
ISBN-10: 3-442-73903-5