Herbert Kalbitz und Dieter Kästner haben eine illustrierte Bibliographie des Kriminalleihbuchs erstellt und bei ACHILLA PRESSE veröffentlicht

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Medium des Leihbuchs stellt heutzutage fast nur noch das Betätigungsfeld weniger Spezialisten dar. Sieht man von den Arbeiten Jörg Weigands ab, erfuhr es kaum eine nennenswerte Würdigung als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

 

Das Andenken dieser mittlerweile untergegangenen Publikationsform, der Hans-Ulrich Treichel in seinem Romanerstling „Der Verlorene“ (1998) ein Denkmal setzte, bewahrt bis heute eine, wie man überrascht und erfreut vernimmt, deutlich im Steigen begriffene Anzahl spezieller Sammler und Liebhaber.

 

Doch was ist überhaupt ein Leihbuch? Wie das romantische Kunstlied und der Heftroman stellt das Leihbuch im eigentlichen Sinne ein Phänomen dar, das in seiner spezifischen Ausformung letztlich auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieb. Bezeichnet werden mit diesem Begriff Bücher, die speziell zum Vertrieb durch gewerbliche Leihbüchereien hergestellt wurden. Seine Ursprünge reichen weit bis ins 19. Jahrhundert zurück, doch das „goldene Zeitalter“ des Leihbuchs dürfte zweifelsohne der Zeitraum unmittelbar vom Ende des Zweiten Weltkriegs an bis etwa zur Mitte der 1960er Jahre gewesen sein, als in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz etwas über zwei Jahrzehnte hin eine große Anzahl von Verlagen florierte, die sich ausschließlich der Produktion von Leihbüchern widmeten. Die Entwicklung geriet spätestens ab Ende der 1960er Jahre sichtlich ins Stocken, und mit einem Reprint eines Westernleihbuchs im Jahre 1979 dürfte die Geschichte des Leihbuchs ihr Ende gefunden haben.

 

Das Leihbuch war, wie der Name bereits suggeriert, für den gewerblichen Verleih bestimmt und mußte daher über eine gewisse Robustheit verfügen. Es handelte sich dabei vorwiegend um Hardcover, zwecks Transporterleichterung in genormtem Format – 18 cm hoch, 12,5 cm breit, ca. 4 cm dick, was einer durchschnittlichen Seitenzahl von 250 oder auch mehr entsprach – hergestellt, auf besonders dickem, vergleichbar den US-amerikanischen „Pulps“ stark holzhaltigem und daher besonders widerstandsfähigem Papier gedruckt, zumeist mit knallbunten, schreienden Titelbildern geschmückt und zum Schutz vor allzu schneller Abnutzung und Verschmutzung in eine durchsichtige Plastikfolie aus der Untergattung Supronyl gehüllt, was zu der überaus sinnreichen Koseform „Supronyl-Schwarte(n)“ führte.

 

Inhaltlich deckten die Leihbücher sämtliche Genres der Unterhaltungsliteratur ab. Die durchschnittliche Auflagenhöhe eines Leihbuchs belief sich auf 2 000 Exemplare; nur selten brachten es einige wenige „Starautoren“ wie der deutschsprachige Western-Klassiker G. F. Unger auf eine Anzahl von 5 000 bis zu 7 000 Exemplaren.

 

Wiewohl sich auch immer wieder literarische Klassiker á la „Die drei Musketiere“ oder „Der Glöckner von Notre-Dame“ in die Reihen der Leihbuchverlage „verirrten“, galt das Leihbuch gleichwohl lange Zeit mit als die verachtetste Form der Trivialliteratur überhaupt, noch unter dem Romanheft rangierend, vornehm als „billiges Lesefutter“ tituliert, etwas weniger zurückhaltend als „unterster Schund“ diffamiert.

 

Daß solcherlei Vorurteile und Vorverurteilungen ebensowenig über die tatsächliche Qualität des hier Gebotenen aussagen, wie der von Leihbuchfreunden oftmals vorgebrachte Hinweis auf die zumeist aus abwegigsten Beweggründen vorgenommenen Indizierungen von Titeln aus dem Leihbuchsektor durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – man spricht hierbei auch gerne von einer „Hexenjagd“ – ein Indiz für das generelle Vorhandensein subversiver Subtexte im Supronylgewand darstellt, versteht sich von selbst.

 

Gleichwohl bleibt der Makel an Feuilleton und Fachgermanistik haften, daß beide eine Reihe literarisch hochwertiger Autoren erst langsam zur Kenntnis zu nehmen begannen, als deren Werke in Verlagen wie Suhrkamp oder Diogenes zu erscheinen begonnen hatten, nicht jedoch zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt, als man sie in deutscher Sprache nur in Form von Leihbüchern oder Romanheften zu rezipieren vermochte – stellvertretend seien hier aus den Bereichen der Science Fiction wie der Kriminalliteratur Namen wie Stanislaw Lem, Ray Bradbury, Brian Wilson Aldiss, Philip Kindred Dick, James Graham Ballard, Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Cornell Woolrich oder Margery Allingham genannt. Auch sei daran erinnert, daß man mancherorts Warnrufe bezüglich des vermeintlich vor seinem Untergange befindlichen Abendlandes – wobei natürlich erwähnt werden muß, daß bekanntlich die Wenigsten wußten und wissen, worauf Oswald Spengler tatsächlich mit dieser Begriffsbildung hinauswollte! – zu vernehmen vermochte, als Mitte der 1990er Jahre der Rotbuch Verlag eine sorgfältig edierte Neuausgabe der „Mike Hammer“-Romane von Mickey Spillane startete, dessen deutschsprachige Erstausgaben im Leihbuchformat im Amselverlag „sämtlich dem Bannstrahl der Bundesprüfstelle zum Opfer fielen“ (Jörg Weigand im Vorwort, S. 8), weswegen sich später Heyne und Ullstein bevorzugt auf entschärfte und gekürzte Versionen stützten.

 

Mit Herbert Kalbitz, seit rund einem Vierteljahrhundert Vorsitzender des „Jerry Cotton Clubs Deutschland“ und Betreiber des Aufbaus einer „Zentralkartei für Leihbücher“, die bislang ca. 33000 Datensätze umfaßt, und Dieter Kästner, Autor einer vielbeachteten „Bibliographie der Kriminalerzählungen 1948 – 2000“ (erschienen 2001 im Baskerville Verlag, Köln-Sulz), haben sich nun zwei Koryphäen auf dem Gebiet der Kriminalliteratur wie der Leihbuchforschung – der Begriff ist in diesem Zusammenhang absolut angemessen! – an die herkulische Aufgabe gemacht, die Kriminalliteratur im Leihbuchsektor bibliographisch zu erfassen.

 

Dabei galt es nicht allein, die tatsächlich vorhandene Anzahl von Leihbüchern im Privatbesitz der beiden Autoren oder befreundeter Sammlerkollegen (nicht zuletzt aus dem Umfeld des von Herbert Kalbitz seit gut zwei Jahrzehnten organisierten „Offenbacher Leihbuch-Symposions“!) zu sichten und auf ihre Genrezugehörigkeit hin zu prüfen – vielfach war es notwendig, die schiere Existenz bestimmter Leihbücher nachzuweisen: Neben einigen marktführenden Verlagen waren im Leihbuchbereich auch viele Klein- und Kleinstunternehmer tätig, deren Läden (gleichermaßen wortwörtlich wie metaphorisch zu lesen!) aus wirtschaftlichen Gründen vielfach bereits schlossen, noch bevor die Deutsche Bibliothek ihre Pflichtexemplare einzutreiben im Stande war – einer von vielen Gründen, weshalb der Gesamtkomplex der Leihbücher bis heute nur unzureichend bibliographisch erfaßt und erst recht in Bibliotheken kaum greifbar ist. Von vielen Leihbüchern ist bis heute unbekannt, ob sie überhaupt je erschienen oder nur vom Verlag angekündigt wurden. In manchen Fällen bestand der einzige Hinweis auf ihre Existenz aus dem bei der Bundesprüfstelle eingegangenen Indizierungsantrag. Auch wurde nicht jedes Buch indiziert, dessen Indizierung man beantragte!

 

In jahrzehntelanger Kleinarbeit, ohne staatliche Fördermittel, allein aus der eigenen Tasche finanziert, ermittelten Kalbitz und Kästner nicht nur die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit eines einzelnen Titels zum Krimi-Genre, sondern erforschten komplette Verlagsprogramme und –geschichten, knackten zahlreiche Pseudonyme und eruierten so manche publikationsgeschichtliche Anekdote.

 

Dem Interessierten bietet das vorliegende Werk nun die Möglichkeit, nach unterschiedlichsten Kriterien das Gewünschte zu finden – gleichgültig, ob man bei seiner Suche nach Autorennamen, (Verlags-)Pseudonymen, Serienheldennamen, Verlagen oder Verlagsreihen vorgeht. Auch haben Kalbitz und Kästner ihren künftigen bibliographischen Projekten zur Abenteuerliteratur, zum Westerngenre oder verschiedenen kleineren Genres, die für die kommenden Bände ihrer Leihbuchbibliographie geplant sind, bereits deutlich vorgegriffen, indem sie bei jedem behandelten Autor auch gleich sein restliches Schaffen im Leihbuchbereich, freilich aus anderen Genres, mitverzeichneten. So wurde aus einem Hobby – Wissenschaft!

 

Nach der erweiterten Neuausgabe von Robert N. Blochs „Bibliographie der Utopie und Phantastik 1650–1950 im deutschen Sprachraum“ sowie des Verlegers Mirko Schädel unter Mitwirkung von Robert N. Bloch erstellter „Illustrierten Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum von 1796 bis 1945“ liegt mit dem Auftaktband der Leihbuchbibliographie von Herbert Kalbitz und Dieter Kästner im 1990 gegründeten Verlag ACHILLA PRESSE, der bereits mehrfach durch spektakuläre Neu- oder Erstveröffentlichungen deutsch- und fremdsprachiger Kriminalliteratur und Phantastik (Joseph Sheridan Le Fanu, Wilkie Collins, Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Fenimore James Cooper, Charles Brockden Brown, Mary Wollstonecraft und Percy Bysshe Shelley, Edgar Allan Poe, Victor Hugo) sowie die Förderung verschiedener junger Talente (Johanna Moosdorf, Katharina Höcker, Anna Katharina Hahn) oder die Pflege moderner Klassiker (Sherwood Anderson, Boris Vian, Hubert Selby) Aufsehen und positive Resonanz erregte, ein weiteres bibliographisches Werk vor, mit dem bereits Maßstäbe gesetzt werden konnten. Es ist nun Sache einer geistig aufgeschlossenen, sich von ihren ideologischen Erstarrungen langsam freikämpfenden Literaturwissenschaft, das hiermit gemachte Angebot nicht als hingeworfenen Fehdehandschuh zu betrachten, sondern als Ansporn für fundierte Forschungsarbeit in literarhistorischer „terra incognita“ zu werten – und nach Möglichkeit auch zu nutzen! Die Rechnung für eine solche Unternehmung wird von einer dankbaren Leserschaft gewiß nicht mit Blei entlohnt werden!

 

 

INFO:

 

Herbert Kalbitz / Dieter Kästner:

Illustrierte Bibliographie der Leihbücher 1946 – 1976

Teil 1: Kriminalleihbücher

500 Seiten, EUR 69.00

Achilla Presse, Stollhamm-Butjadingen 2013

ISBN: 978–3–940350–22–0

 

Und für alle, bei denen die Lektüre dieser Rezension ein Interesse am Leihbuch sowie einer vertieften Beschäftigung mit demselben zu entfachen vermochte, sei noch das Standardwerk (man beachte bitte die raffinierte Anspielung hierauf im Titel dieser Rezension!) von Jörg Weigand empfohlen, der, wie schon erwähnt, zur Leihbuchbibliographie von Herbert Kalbitz und Dieter Kästner ein Vorwort beisteuerte:

 

Jörg Weigand:

Träume auf dickem Papier. Das Leihbuch nach 1945 – ein Stück Buchgeschichte

168 Seiten, EUR ca. 20.00

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005

ISBN: 3-7890-3866