Zum Nachdenken zwingende, herausfordernde Essays von Ferdinand von Schirach im Piper Verlag und vom Autor gelesen bei Osterwold, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sie sollen zusammenzucken bei der Aussage: Die Würde ist antastbar! Denn einerseits erlebt jeder von uns täglich auf kleiner und großer Ebene, wie genau diese Würde von Menschen angetastet wird, andererseits fällt einem dann sofort Artikel 1 des Grundgesetzes ein, der dies untersagt.

 

Die Bestimmung, die Forderung, die Hoffnung, das Verdikt dieses Artikel 1: „(1)Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“, die wir Deutschen doch immer als politisches, ethisch-moralisches Resultat nach der grob menschenverachtenden und groß menschenvernichtenden Herrschaft der Nationalsozialisten für unsere gesellschaftliche Zukunft erachten, hat allerdings historisch brisante Vorgeschichten, mit denen von Schirach uns überrascht und ob wir wollen oder nicht, mitten hinein in eine Diskussion in uns selbst führt, wie wir das so halten mit der Umsetzung des Artikel 1, wenn es ans Eingemachte geht.

 

Das Eingemachte kommt hier historisch daher und weil das Beispiel so präzise den Punkt trifft, wollen wir kurz referieren und auch zitieren: „Am 5. Juli 1884 geriet die 'Mignonette', ein kleiner englischer Frachter, in eine Sturm. Das Schiff wurde auf das offene Meer abgetrieben. Etwa 1600 Meilen vor dem Kap der Guten Hoffnung kenterte es und sank. Die Mannschaft bestand aus vier Personen: dem Kapitän, zwei kräftigen Matrosen und einem 17jährigen mageren Schiffsjungen. Sie konnten sich auf ein Beiboot retten“. (Seite 6f) Dort vegetierten sie die nächsten Tage und aßen die Vorräte auf, Trinkwasser war auch nicht mehr vorhanden. Der Regen wurde mit Jacken aufgefangen und so überlebten sie – wie es heißt, mehr schlecht als recht – viele Tage. „Am 18. Tag nach dem Sturm - inzwischen hatten sie sieben Tage lang nichts gegessen und fünf Tage nichts getrunken – schlug der Kapitän vor, einen aus ihrem Kreis zu töten, um die anderen zu retten.“(7)

 

Dieses Tabu vom Kanibalismus wurde erst drei Tage später, als sie rund 10 Tage überhaupt nichts mehr gegessen hatten, wiederaufgegriffen mit der Variante, ein Los solle entscheiden, wer geopfert würde. Und jetzt kommt es. Denn auf einmal kam die Diskussion auf, daß die drei Männer doch Ehemänner und Väter seien, unersetzlich für ihre Familien, der Schiffsjunge dagegen Waise und zudem todkrank. Er würde sowieso sterben. Und so tötete der Schiffskapitän am Tag drauf den Jungen, sein Körper wurde zur Nahrung der anderen, sein Blut getrunken. Die drei Überlebenden wurden tatsächlich aufgefunden und gerettet. Sie wurden als Opfer und Helden öffentlich gefeiert.

 

Doch da gab es den getöteten Jungen, weshalb die Staatsanwaltschaft sie verhaften ließ und vor Gericht stellte. „Die einzige Frage des Prozesses lautete: Durften die Seeleute den Jungen töten, um ihr eigenes Leben zu retten? Drei Leben gegen eines. Das Gericht sollte darüber urteilen, ob eine solche Rechnung erlaubt ist.“ (8) Und dann verführt uns von Schirach mit Beispielen, wo mit einem Leben nicht drei, sondern 3 Tausend, 3 Millionen, 30 Millionen ja 300 Millionen Menschen aufgewogen, gerettet werden können. Was ist das eine Leben gegen so viele andere wert? Konkreter: ab wann wiegt ein Menschenleben das anderer auf?

 

Das Urteil des alten englischen Richters – von Schirach stellt es dramaturgisch geschickt an den Ende des Beitrags, denn in der Mitten geht es philosophisch mit Kant und Schopenhauer zur Sache – lautete auf Mord, deshalb die Todesstrafe, wobei aber angesichts der Umstände Begnadigung vorgeschlagen wurde und die Seeleute nach sechs Monaten freigelassen wurden. So spannend dies ist, dient das Beispiel doch dazu, die Urteilsbegründung substantiell auf uns wirken zu lassen: „Wir werden häufig dazu gezwungen, Standards aufzustellen, die wir selbst nicht erreichen, und Regeln festzulegen, die wir nicht selbst befriedigen können...Es ist nicht notwendig, auf die schreckliche Gefahr hinzuweisen, die es bedeutet, diese Grundsätze aufzugeben.“ (17)

 

Man merkt unseren Ausführungen schon an, daß wir wieder einmal entzückt von den Herausforderungen sind, die der Autor uns zumutet. In den insgesamt 13 Essays geht es kunterbunt , aber immer auf intellektuelle Weise funkelnd zu. Nur mit zwei Dingen sind wir nicht einverstanden: Das eine ist, daß im ersten Beitrag mit der titelgebenden Überschrift „Die Würde ist antastbar“, auf den allein wir uns bisher bezogen haben, kein Wort zum Hessischen Generalstaatsanwalt  Fritz Bauer fällt. Für diesen war Artikel 1 (1) so entscheidend, daß er an den zwei Stätten seines Wirkens, der Generalstaatsanwaltschaft in Braunschweig und dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main jeweils an den Außenwänden diesen Leitspruch in Großlettern anbringen ließ. Aber nicht deshalb hätte er in diesen aufregenden Essay hineingehört, sondern, weil Artikel 1(1) eben auch auf das von den Nazis sogenannte „unwerte“ Leben zielt und Bauer der wichtigste Prozeß von allen der Euthanasieprozeß gewesen wäre, der nach seinem Tod 1968 nicht mehr geführt wurde.

 

Den zweiten, diesmal inhaltlich konträren Einwand wollen wir im nächsten Artikel formulieren, in dem wir auch die Entscheidung loben, den Autor seine Meinungen, seine Überzeugungen und Fragen in der Hörversion selbst vorzutragen zu lassen. Fortsetzung folgt also.

 

 

INFO:

 

Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Essays, Piper Verlag

Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Essays, ungekürzte Autorenlesung, 3 CDs, Laufzeit 170 Minuten, Osterwold Audio