Zum Nachdenken zwingende, herausfordernde Essays von Ferdinand von Schirach im Piper Verlag und vom Autor gelesen bei Osterwold, Teil 2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vor einer Woche überraschte das ZDF mit einer zwar leicht melodramatischen, aber den meisten Bundesbürgern unbekannten wichtigen Geschichte aus der Zeit der Nürnberger Prozesse DAS ZEUGENHAUS, das so genannt wurde, weil sowohl Zeugen der Anklagen wie der Verteidigung in einem Haus untergebracht wurden.

 

Überraschenderweise taucht dort auch „Henny“, Henriette von Schirach auf, die Großmutter unseres Autors Ferdinand und Ehefrau des damals in den Nürnberger Prozessen dann zu 20 Jahren Haft verurteilten Reichsjugendführers und Statthalters von Wien. Sie war zudem die Tochter des Hitlerfotografen Heinrich Hoffmann, Sekretärin von Hitler und diesem besonders nahe. Im Film wird sie von Rosalie Thomass derart impertinent blond und doof – naiv ist wirklich untertrieben, dafür aber noch anmaßend – dargestellt - „Reichsjugendführer und Reichsstatthalter in Wien, so was wird man doch nicht als böser Mensch“, sagt sie einmal. Und: „Es war ein Fehler, die Juden umzubringen. Das hab ich dem Herrn Hitler auch gesagt. Es hätte völlig gereicht, sie aus dem Land zu jagen. Da war der Herr Hitler böse und hat mich nicht mehr auf den Obersalzberg eingeladen.“ , daß man die Aussagen des Enkels über seinen Großvater Baldur von Schirach auf den Seiten 37-46 unter der Überschrift DU BIST, WER DU BIST gleich noch einmal durchliest.

 

Doch, man hat sich richtig erinnert. In den „Warum ich keine Antworten auf die Fragen nach meinem Großvater geben kann“ untertitelten Aussagen kommt die Großmutter überhaupt nicht vor. Das wundert einen dann nicht, wenn man recherchiert, daß diese sich schon 1949/50 von seinem inhaftierten Großvater scheiden ließ. Das wundert einen noch weniger, bzw. diese Entscheidung versteht man, wenn man die Charakterisierung des Großvaters durch den Enkel liest, auch wenn im ZEUGENHAUS der familiäre Kriegsverbrecher der dummdreisten Ehefrau noch als Held galt.

 

Da wird von Baldur von Schirach einerseits der Großvater in solchen großväterlichen Eigenschaften beschrieben wie gemeinsamen Spazierengehen und Mühlespielen. Aber schon hier verhält der sich anders, als es Großeltern gemeinhin tun, die die Kinder gewinnen lassen, damit die den Erwachsenen gegenüber auch mal das Sagen haben. „Und wir spielten jeden Tag Mühle, er gewann immer mit dem gleichen Trick. Irgendwann dachte ich so lange darüber nach, bis ich verstand, wie er das machte. Danach spielte er nicht mehr mit mir.“ (39) Von Schirach vermittelt auch eindrücklich, wie das ist, wenn man im eigenen Geschichtsbuch plötzlich den Großvater im Foto in seiner politischen Nazifunktion erblickt, ihm gegenüber ein Stauffenberg als „Widerstandskämpfer“. „Kämpfer klang viel besser. Neben mir saß ein Stauffenberg, ein Enkel wie ich, wir sind heute noch befreundet.“ (41)

 

Wir erfahren also, wie der aufwachsende Ferdinand mehr und mehr von seinem Großvater kennen lernt und wie er dann im Studium die Nürnberger Prozesse durchnimmt und das Ausmaß der Schande und Schuld seines Großvaters begreift, der, ganz „Kulturmensch“, am selben Abend in der Wiener Oper in seiner Loge die Aufführung genoß, als am Aspang-Bahnhof im Dritten Bezirk in seinem Namen die Juden zusammengepfercht und in den Tod geschickt wurden (den von Schirach benannten Hauptbahnhof, zu dem gerade jetzt der ehemalige Südbahnhof umgemodelt wurde, gab es damals nicht, in seiner Nähe war die Zentralstelle der Juden angesiedelt, die alle Juden registrierte). Es kommt ja noch schlimmer, der Nazi-Statthalter von Wien benannte den Abtransport der Juden aus Wien als seinen eigenen, seinen persönlichen Beitrag zur europäischen Kultur! Auf jeden Fall ist dem Enkel das Wissen seines Großvaters um den Judenmord und damit auch dessen Einverständnis dazu allzu bekannt, weswegen er sicher besonders schlimm den von Baldur von Schirach gewollten Grabstein empfand: „Ich war einer von euch“.

 

Als Enkel eines solchen Mannes steht man wirklich mit dem Rücken an der Wand: „Mein Großvater brach nicht durch eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein Mißgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit. Heute fragen wir in einem Strafverfahren, ob dem Angeklagten bewußt war, was er tat, ob er es noch Verstehen, ob er noch Recht vom Unrecht unterscheiden konnte. Das alles ist für meinen Großvater schnell beantwortet. Gerade seine Schuld wiegt schwer: Er stammte aus einer Familie, die seit Jahrhunderten Verantwortung trug. Seine Kindheit war glücklich, er war gebildet, die Welt stand ihm offen, und er hätte sich leicht für ein anderes Leben entscheiden können. Er wurde nicht unschuldig schuldig...“(45)

 

Wir stimmten 12 der 13 Essays inhaltlich beim Lesen und Hören derart einverständnisnickend zu, daß es uns schon selber peinlich wurde. Und dann endlich wenigstens „Reine Menschen, reine Luft“ , „Über Raucher und Nichtraucher“ ab Seite 89, wo sich nicht nur Widerspruch regte, sondern geradezu widerständiges Verhalten erzwungen wird, hier in Form von Worten: Sehr geehrter Autor, Sie dürfen rauchen, wo Sie wollen und sich auch zu Tode oder in den Genußtod hineinrauchen, sobald Sie dabei nicht Menschen tangieren, für die Rauch Gift ist. Der ganze Essay, der nach Freiheit für die Raucher ruft, vergißt, daß auch beim Rauchen Rosa von Luxemburgs Aussage: Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden gilt. Denn es gibt Menschen, die unter dem Rauchen leiden.

 

Das sind nicht nur Kinder und Schwache, das sind auch Menschen, die aufgrund von Verlangsamung der Produktion von roten Blutkörperchen unmittelbar mit Kopfweh und Migräne auf Rauch reagieren. Wir meinen zwar, daß es in einer zivilisierten Gesellschaft langen müßte, zu sagen, ich möchte keinen Rauch einatmen, ohne daß man ein Gesundheitszeugnis vorlegen muß, ein Weg, den die Bundesrepublik – worüber sich von Schirach ja eben lustig macht – auch geht. Aber wir wären bereit, Herrn von Schirach ein solches Ärztezeugnis an die Hand zu geben. Das wollten wir dem Autor von DIE WÜRDE IST ANTASTBAR dann doch noch mitgeben, dessen Worten wir auf den drei CDs so gerne lauschten. Es geht dabei gar nicht darum, daß der Autor so wunderbar lesen täte, aber solch persönliche Aussagen, wie sie in diesen Essays fallen, sind sehr viel eindrückler, wenn sie der vorträgt, der sie schrieb. Einfach weil es seine Meinung ist.

 

Daß wir parallel auch das Buch lasen und insgesamt zweimal sowohl das Buch wie auch das Hörbuch, also viermal den Text verinnerlichten, ist ein Ausdruck dafür, daß von Schirach wichtige Fragen oft in knappen Worten wiedergibt, die lange in einem wirken und nachwirken, allerdings so gewichtig sind, daß man sie gut wiederlesen kann.

 

Wir sind schon auf sein nächstes Buch gespannt, das sich der tätige Strafverteidiger zeitlich allerdings wirklich heftig erarbeiten muß. Auch davon handelt einer der 13 Essays, ein besonders erhellender. Ferdinand von Schirach ist für uns eine nicht wegzudenkende Stimme in der Bundesrepublik, die man eigentlich gerne über die Schriften hinaus in Deutschland hören möchte.

 

 

INFO:

 

Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Essays, Piper Verlag

Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Essays, ungekürzte Autorenlesung, 3 CDs, Laufzeit 170 Minuten, Osterwold Audio