LiBeraturpreis auf der Frankfurter Buchmesse 8. bis 12. Oktober 2014, Teil 35

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 17. Oktober 2014 war die Preisverleihung auf der Buchmesse. Damals kündigten wir eine ausführliche Besprechung an. „Ein Buch wie eine Mine. Wie zwei Minen: eine Goldmine und eine Tretmine.“,

schreibt im Nachwort der Übersetzer des Romans aus dem Arabischen Hartmut Fähndrich (Seite 585). Lesen Sie das Nachwort wirklich – wie wir - erst danach. Nach dem Selberlesen.

 

Ein Roman, der tief in die islamisch-arabische Welt vordringt, der die gesamten über vierzehn islamischen Jahrhunderte abschreitet, Personen evoziert und Geschriebenes zitiert, aber auch noch auf ältere Traditionen, auf weniger gut belegte Überlieferungen und die Mythologie zurückgreift und dazuhin mit beißender Schärfe neue, heutige Ereignisse und Entwicklungen geißelt.“, fährt Fähndrich fort. So abgewogen und historisch einordnend hätten wir das nie ausdrücken können, empfehlen also das Nachwort und tauchen jetzt in den Roman ein. Denn anders kann man sich dem 578 Seiten umfassenden poetischen, luftigen, erdenschweren und auch skurrilen Werk nicht nähern, noch es erfassen.

 

Wo hat es das schon einmal gegeben, eine Gasse als Ich-Erzähler? Sie ist der Grundton der Erzählungen aus der engen „Gasse namens Abu-I-Rus, das vielköpfige Ungeheuer. Die Vielkopfgasse.“(11), die nicht wie Tausendundeine Nacht mit dem Erzählen nicht aufhört, weil der Tod wartet, sondern weil die Vielfalt des Lebens das erfordert: das Ungleiche in ein und derselben Zeit, das Gleiche über die Jahrhunderte hinweg, die Verschiedenartigkeit der Menschen und ihre je spezifische Art und Weise des Überlebens, des Zurechtkommens, aber auch der Auflehnung und Gegenwehr. In der Tat ist in diesem Mosaik aus Worten und Sätzen alles enthalten, was sich als Leben vorstellen läßt, wobei dieser Grundton die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verwischt, so wie wie wir in Wachträume verfallen, in denen wir nicht mehr unterscheiden können, was wahr und was Phantasie ist, wobei wir ebenso wissen, daß die Phantasie wahrer sein kann als die schnöde Wirklichkeit.

 

Ist nämlich beim Erzählen das Faß erst einmal aufgemacht, das ordentliche „sagte er“ und „erwiderte sie“ zugunsten der archaischen Wucht von Fühlen, Erinnern, Wünschen, Wüten und Morden, Sich Schämen, Wiedergutmachenwollen und dem Ausleben der sich oft widersprechenden Strukturen in jedem Menschen, dann ist kein Halten mehr. Magisches Denken, wer kennt diesen Kinderglauben nicht auch als Erwachsener. Meisterhaft läßt Raja Alem ihre Vielkopfgassenfrauen Aischa (erste Kandidatin für den Leichnam), Asa, Scheich Musahims Tochter (mögliche Kandidatin für den Leichnam) und dann auch noch Nora, wie der mafiöse Geschäftsmann Chalid al-Sibaichan seine Mätresse nennt, den Teppich weben, der zeigt, auch in Mekka, einer der heiligen Stätten des Islam, sind Frauen diejenigen die das Raunen der Geschichte ausmachen – und vielleicht sind alle drei nur eine einzige Frau?

 

Auf jeden Fall sind Frauen im Mekka von heute – denn der Roman spielt heute, er hat so gar nichts von gestern oder gar Mittelalterliches – die reflektierenden Wesen, die schreiben und analysieren, die lieben und lieben lassen und so lebendig sind, daß Männer an ihnen Anstoß nehmen, weshalb gleich am Anfang in der Vielkopfgasse der unbekleidete Leichnam einer Frau aufgefunden wird, an deren Mordermittlung wir mit Kommissar Nassir das Geschehen nun verfolgen, wozu gehört, erst einmal herauszubekommen, wer die weibliche Leiche ist, denn es gibt mehrere Kandidatinnen, die verschwunden sind. Den Ermittlungen des Kommissars folgt auch die Vielkopfgasse recht verwirrt, denn sie müßte den Mörder ja kennen, überläßt die Aufklärung aber dem Polizeiinspektor, der sich an zwei schriftlichen Quellen entlangliest, die auch für uns ein fester Haltepunkt im überbordenden Geschehen werden: die nie abgeschickten Entwürfe von-Email-Briefen an den deutschen Geliebten von Aischa, die der Kommissar in deren Rechner findet, und das ausführliche Tagebuch über Privates und Stadtgeschehen, das Yussuf führt.

 

Aischas Emails integrieren zusätzlich ihre Lektüre von LIEBENDE FRAUEN von H.G. Lawrence, mit langen Zitaten, und wer je diesen 1920 erschienenen Roman voller Erotik und explodierenden Leidenschaften gelesen hat, macht sich um das gegenwärtige Liebesleben der Aischa, wie sie es in der Vielkopfgasse frönen, bzw. nicht frönen könnte, schon seine Gedanken. Daß Literatur auch eine sublimierende Seite hat, wird hier genauso ausgelebt, wie ihr Gegenteil: der Rausch, der Schreiben grundsätzlich und auch am Rechner erzeugen kann, eben auch den erotischen Rausch.

 

Kommen wir zu den Männern, denen der Gasse und denen von Mekka, denn die Männer sind diejenigen, die handeln, die das Leben in der Gasse mit dem Stadtgeschehen verwurschteln und dies im Falle vom schon erwähnten Boß Chalid al-Sibaichan, dem Immobilienhai von Mekka, sogar derart, daß es angesichts der Grundstücksaufkäufe und Neubebauungen der Stadt, unsere Gasse am Ende gar nicht mehr geben wird. Der Roman wird also auch zum Abgesang auf das alte Mekka, dem wir beiwohnen. Fortsetzung folgt.

 

 

Raja Alem, Das Halsband der Tauben, Unionsverlag 2013