Ein wahres Monument von Bildband von Taschen bildet ein Overview-Protokoll der ewigen Rotzlümmel ab, Teil 1
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das, was die Rolling Stones ausmacht, war zu einer bestimmten Zeit Lebenselixier in den jugendlichen Milieus und ist es im Kern bis heute. Auch fortgeschrittene Semester geraten wieder in Aufruhr, wenn während eines Laufparts der Gymnastik unvermittelt 'Twist and Shout' losblafft.
Und mit 'Brown Sugar' werden sie erst recht rebellisch. Beatles und Rolling Stones sind musikgeschichtlich in Dipolarität miteinander verknüpft, wenn auch unabgesprochen. Dass sich das so ergeben hat, ist wundersam. Selbst wenn in musikalischer Hinsicht noch andere Klangbilder vor jenen Sechziger-Ereignissen und danach auftauchten und Aufnahme fanden - wir haben die Rolling Stones immer wieder gemocht, weil sie hierzulande die miese und verschnarchte Bürgerlichkeit der ausgehenden Adenauerrepublik zerdepperten. Und Anlass dazu gibt es dazu noch immer. Denn weiterhin gibt es versteinerte Alt-Milieus, z.B. in der Politik. Wir lieben sie noch immer, weil sie in unseren Persönlichkeitsentwurf eingegangen sind, was im übrigen auch für manche Konservative gilt. Ohne zeitweilige Distanzierung von den Beschwärmten ist nur unzureichend Vernunft, aber das Wiederanknüpfen, die Rückkehr zu den Ursprüngen und Anfangsgründen ist unvermeidlich, die Rolling Stones können immer wieder neu und anders entdeckt werden.
Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs wurden in musikalische Errungenschaften durch die zu jener Zeit neuentstandene, aufbegehrende Jugendkultur gegen alte Mehrheiten und Männerriegen durchgesetzt. Die Initialzündung kam durch die 'British Blues Explosion' (nach einem Film von 'arte'), die ab den Fünfzigern aus den USA übersprang. Der Funke sprang auch ohne allzu großes Aufsehen in die noch benommene mehrheitliche Gesellschaft des europäischen Kontinents über, die vielfach in Lethargie und Restauration verharrte.
Im Nachhinein wird klar, dass die Rolling Stones doch etwas unterschätzt wurden – Fehleinschätzen gehört zum unvermeidlichen Reflex auf alles Bedeutende, Anfechtungen treten auf. Im Rückblick aber wird offenbar, dass auch sie zu den Repräsentanten jener Gesamtkunstwerkseigenschaften gehören, die eine Spur mehr noch für Madonna (später!), David Bowie, Frank Zappa, Michael Jackson, Prince und nicht zu vergessen: Jimi Hendrix gelten. Auch er war 'on his way', kam aber um. Singulär wird Elvis bleiben, die lange Zeit wird es erweisen. Es handelt sich bei all den Genannten um Individuen und Gruppen, die eine Aura haben; von denen anzunehmen ist, dass sie von vornherein wussten oder merkten, dass sie so etwas wie eine Sendung vollstrecken, dass sie zu weichenstellenden Genre-Schöpfer werden, dass sie Missionare des Raumschlagens sind, was analog für die Köpfe der klassischen und romantischen Gefilde der ernsteren Musikauffassung und für die moderne Oper ebenso gilt.
Die ersten, im Studio seltsam gestellt wirkenden Gruppenauftritte der Rolling Stones bestechen noch immer, die Fünf zeigen sich mit seltsam geschnitzt wirkenden Gesichtszügen, die zueinander passen wie notwendige Momente eines Ganzen, einer Gruppe von Sendungsbewussten zumal. Ähnliches liegt auch von den Animals vor. Einen Strahl des Banns sandte immer Bill Wyman aus, der den Elektrobass stets fast senkrecht mit dem Griffbrett noch oben gerichtet hielt wie einen Cellohals, dabei aber gleichzeitig wie mit einer eisigen Miene von Weggetretensein beschlagen wirkte.
Die frühen Stücke, auch wenn sie gecoverten Blues-Vorlagen entstammen – oder davon inspiriert sind -, bestechen als präzise Werke in Form und Inhalt, auch die frühen Eigenkompositionen klingen makellos in Text und Ton, z.B. mit: „Mother`s Little Helper' (1966).Gelernt wurde schnell - das ist noch heute so, denn man hat als Jugendlicher eine Welt zu gewinnen -, man war viril von den inspirirenden US-Vorlagen gepackt, jedoch gab es einen unerträglichen Vorlauf der Bedeutungslosigkeit, der erst 1963 durchbrochen wurde. Ab dann aber konnte die neu entstandene Männermusikwelt Kontinentaleuropas nichts mehr aufhalten.
Das neue am British Blues
Die Rolling Stones haben den Vorlagen der afro-amerikanischen Musik eine 'nordisch-rationalistische' Wende verpasst und sie durch Zuspitzung so erregend uminterpretiert, dass die Schreiorgien insbesondere der weiblichen Teenager kein Geheimnis mehr sein dürften. Aber auch Jungs klopften exaltiert mit den ausgezogenen Schuhen auf der Rampe. Erst heute wird klar, warum die Rolling Stones oft nur eine halbe Stunde spielten: sie hörten sich in all dem Schreien und Toben selbst nicht mehr. Die Verstärker waren noch zu kraftlos ausgelegt, bis dann die Marshall-Boxen kamen. Auch die Beatles hörten auf, sich auf Tourneen zu begeben, weil sie sich in großen Stadien selbst nicht mehr genügend hören konnten.
Fangen die ersten Takte der Introduktion von 'Under my Thumb' im Open Air-Stadion anzuklingen, so befällt einen noch immer unmittelbarer der Schauer. Die Wertschätzung des Schauerns ist uns aus den Äußerungen Goethes geläufig.
Einmalig im Auftreten der Rolling Stones ist die zu jeder Zeit seelenruhige Arroganz von Mick Jagger, z.B. in dem Streifen: 'Rolling Stones: Rock´n Roll Circus'.- Aber: die Fünf wussten auch genau Bescheid über ihre Mission, sie waren ohne je zu zweifeln davon überzeugt, dass sie an der Zeit waren und es ihnen gelingen würde. Und sie wussten, dass sie gut sind. Die Coolness Mick Jaggers, wenn er in Interviews befragt wird, ist einzigartig. Sie äußert sich auch sprachlich elaboriert. Das gilt ähnlich für die Beatles.
Die Pole der Kultur
Beatles und Rolling Stones markieren die jeweils unterschiedlichen Pole der Kultur, festgemacht in den schöpferischen Wirkmächten des 'Dioysischen' und des 'Apollinischen'.
Gott Dionysos – er ist unter anderem Gott des Weines und der Ekstase - ist Verkörperung der dunklen, rauschhaften Seite des Lebens wie auch der Kunstarbeit. Apollo ist die Verkörperung des Lichtes – damit der Erkenntnis, der hellen und klaren Seiten der Kultur. Menschliche Kulturarbeit wird also aus zwei Antrieben gespeist, die nur jeweils die Seiten des gleichen Kerns sind. Der Unterschied ist bloß bedingt, wenngleich auch nicht wegzuerklären.
Die Rollings Stones sind Dionysos-Jünger; das heisst: sie sind Sataniker - jedoch nicht Satanisten -, Zyniker und.romantisch-ironisch lästernde Geister. Der machomäßige Spott über weibliches Gebaren und weibliche Befindlichkeiten spricht übers Gesamtwerk gesehen Bände (die entsprechenden Titel besagen es bereits). Die Eigenschaften des Advocatus diaboli, des Zynismus und ironischen Blicks fördern die menschliche Erkenntnis durch ein Moment der ästhetischen Besetzung von böser Satire, elegant abgesonderter Parodie und Persiflage. Die Beatles hingegen sind Jünger des klaren und aufgeräumten Verstandes, sie sind das apollinische Gegenstück zu den Rolling Stones. Sie repräsentieren die helle, jederzeit freundliche Natur der Tonbildnerei. Diese unterschiedlichen Naturen bleiben aufeinander verwiesen, treffen sich aber selten.
Quelle für diesen Ansatz lieferte Nietzsche. Bei ihm heißt es, „dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist...“ (Fr. Nietzsche, Werke I, Carl Hanser, 1954) Fortsetzung folgt.
Info:
Reuel Golden (Hrsg.): The Rolling Stones, Taschen Verlag, Köln 2014, 519 Seiten, 99 Euro