Serie: FRANKFURT LIEST EIN BUCH: Mirjam Pressler, „Grüße und Küsse an alle“ vom 13. bis 26. April, Teil 9

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man mußte sie nach den letzten Tagen von Eröffnungen, Ausstellungen und Lesungen kaum mehr vorstellen, die Verfasserin des für 2015 ausgewählten Buches, Mirjam Pressler, die Coautorin Gerti Elias, mit denen Ruth Fühner vom Hessischen Rundfunk über DIE ROLLEN DER FRAUEN IN DER FAMILIE FRANK ein Gespräch führen sollte und wollte.

 

Und das war nicht schwer, denn die beiden Damen waren durch die letzten Lesefesteröffnungstage in Frankfurt nicht strapaziert, sondern voller Elan, jedem der über 130 Besucher, die in der 1. Etage zusammensaßen, nahezubringen, was die gemeinsame Recherche ergeben hatte, die beide anstellten, nachdem ursprünglich Gerti Elias die auch ihrem Mann nicht weiter bekannten vielen Kisten auf dem Dachboden des Hauses in Basel gefunden hatte. Wie ein Krimi, murmelte es hinter mir, und da ist was dran. Nur wurden keine Leichen gefunden, sondern die schriftlichen Zeugnisse vieler Familienmitglieder aus Frankfurt, wo die Familie seit dem Mittelalter ansässig war.

 

Ruth Fühner hatte wirklich keine schwere Aufgabe, denn Mirjam Pressler und Gerti Elias warfen sich die Bälle und die Textstellen, wo mal die eine, mal die andere fortsetzte, nur so zu. Und sie vermieden – und das ist wirklich eine Kunst! - dabei zu weitschweifig oder zu ins Detail verliebt aufzutreten. Sie hielten wunderbar die Mitte zwischen den Ansprüchen, die hier jeder Besucher, der 10 Euro Eintritt bezahlt hatte, haben darf, über das Buch und seine Entstehung Genaueres zu erfahren, ob er nun das erste Mal überhaupt damit zu tun hat oder ob er es längst gelesen hat.

 

Aber nun sind wir schon weit vorgeprescht, dabei fing es mit der Begrüßung von Annika Bald an, die für die Buchhandlung Hugendubel auch ansonsten sehr engagiert die Lesungen vorbereitet und durchführt. Diese Begrüßung ist aus zwei Gründen wichtig. Denn zum einen – und das ist eine absolute Ausnahme bei Lesungen – gab es zur Begrüßung einen Apfelsekt und Wasser natürlich auch, zum anderen dankte Annika Bald demjenigen, der heute in der ersten Reihe saß, aber ansonsten hinter den Kulissen für FRANKFURT LIEST EIN BUCH das ganze Lesefest wieder organisiert hatte, was nur die Eingeweihten wissen: Lothar Ruske. Heftiger Applaus, heftig auch vom Podium.

 

Um es gleich zu sagen: Der Erwerb des Fischertaschenbuches GRÜSSE UND KÜSSE AN ALLE. Die Geschichte der Familie von Anne Frank und das eigene Lesen lohnt auch dann, wenn man täglich zu einer der zweiwöchigen Lesungen geht. So kompakt ist das Material, das Mirjam Pressler auf den über 420 Seiten verarbeitet, die vielen Bilder eingeschlossen, die eine Ahnung geben von der Individualität der Personen, aber auch vom sozialen Status der Familie in Frankfurt.

 

Aufmerksamkeit erweckend hatte Ruth Fühner begonnen, sie, die 85jährige Dame, zu der Anne Frank bis zum heutigen Tage herangewachsen wäre, zu schildern, ihre wachen grauen Augen, die nun zufrieden zurückblickt auf eine erfolgreiches schriftstellerisches Leben, das einst mit ihren Tagebüchern den Anfang nahm und in denen Verleger sofort ihr Talent, den Witz und ihre Fähigkeit entdeckt hatten, hinter die Dinge zu schauen und auch die Abgründe in der menschlichen Natur zu erspüren. Wie schön wäre es, und wie schön wäre es für uns, wir könnten unbefangen damit umgehen.

 

Stattdessen müssen und wollen wir mit Annes Augen den Blick in den Hinterhof auf die Kastanien richten. Und flugs fiel als Pendant der Blick auf die Buche in Basel, die durchs Fenster des Familiensitzes in der Schweiz zu sehen ist, wo Anne Frank nie war, obgleich, wie man später hörte, sie einmal im Sommer in Sils Maria ihre Großmutter besucht hatte. Und dann ging es los, mit der Geschichte vom Fund im Dachboden der rund 10 000 Dokumente, wobei wir glauben, daß die Zahl diejenigen Funde ausdrückt, die für die Literatur verwertbar sind. Denn hinreißend gab Gerti Elias erst mal zur Kenntnis, wie sie Einkaufszettel oder Rechnungen oder sonstiges Zeug aussortiert hatte, um überhaupt den Kern der Papiere gruppieren zu können. Wie gut konnte ich das nachempfinden, hatte ich just solche Kartons von meiner Erb- und Patentante einst aus Wien geerbt.

 

Die Idee war schnell geboren, Mirjam Pressler zu bitten, sich das anzuschauen, die sich erst einmal gar nicht alleine nach Basel traute. Und dann, dann passierte das, was andere ein Erweckungserlebnis nennen: sie sah die Fotografie des Kleinkindes Alice, die gerade stehen kann und ihre Hände schon auf ein aufgeschlagenes Buch stützt, mit etwas skeptischem Blick uns direkt in die Augen schauend und allerliebst in Spitzen und elegante Schnürrschuhe gekleidet. Also um Mirjam Pressler war es geschehen, sie sagte zu und zusammen mit Gerti war dann auch bald die Struktur des Buches klar, die gesamte Franksche Familiengeschichte als Hintergrund zu lassen und mit drei Personen eine Schneise durch Familie und Zeit zu schlagen. Diese Personen sind die besagte Alice, Annes Großmutter, deren Tochter Leni, Annes Tante und Mutter von Buddy und Buddy Elias selbst, der Cousin der Anne. Das zeigt auch, daß die Auswahl der drei dennoch auf den Bezugspunkt der Familie Frank, auf Anne Frank gerichtet bleibt.

 

An diesem Abend aber ging es nur um die Rollen der Frauen in der Familie Frank und da hatte Alice einfach einen großen Auftritt, den Sie bitte im Buch nachlesen, der aber hier am Abend bei Hugendubel voll zu Tragen kam. Denn Alice hatte ja in Frankfurt ihre Kindheit, Jugend und Frauenleben gelebt, sie hat Hessisch gebabbelt, eher Frankforterisch und die Stadt geliebt. Und ab irgendwann war einem gar nicht mehr wichtig, ob man aus dem Buch vorgelesen bekam, denn was die drei da vorne am Tisch miteinander besprachen, wie insbesondere sich Mirjam Pressler und Gerti Elias tiefverbunden und souverän für sich jede einzelne Blüte aus der Erinnerung zuwarfen, hatte so Verspieltes wie Ernsthaftes und war einfach ein Erlebnis, das die Zuhörer dankbar entgegennahmen.

 

 Fotos: (c)Annika Bald Hugendubel

 

Info:

 

Der hr hat diese Veranstaltung für die Wiedergabe am Sonntag 19. April in Kulturzeit Hessen aufgezeichnet

 

Mirjam Pressler/Gerti Elias „Grüße und Küsse an alle“

Die Geschichte der Familie von Anne Frank

Fischer Taschenbuch Verlag

432 Seiten. Kartoniert.

10,99

ISBN 978-3-596-18410-1

 

 

Das 16 seitige DIN A4 Programm FRANKFURT LIEST EIN BUCH liegt an verschiedenen Stellen der Stadt aus. Sie finden es auch unter:

www.frankfurt-liest-ein-buch.de