Serie: FRANKFURT LIEST EIN BUCH: Mirjam Pressler, „Grüße und Küsse an alle“ vom 13. bis 26. April, Teil 19
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein schöner Titel für die Abschlußveranstaltung von FRANKFURT LIEST EIN BUCH im Frankfurter Literaturhaus, was ein Zitat aus einem Brief von Otto Frank ist. Das ist nämlich das Wunderbare am Familienbuch der Franks, wie es Mirjam Pressler und Gerti Elias aufgezeichnet haben, daß wir durch die Konzentration auf die drei in Basel überlebenden Franks auch die Briefe der Ermordeten und des seine Tochter überlebenden Otto Franks kennenlernen.
So war der Abschluß der über 90 Veranstaltungen seinen Briefen gewidmet, von denen, wer wollte, die schwersten, nämlich die mit den Todesnachrichten von Frau Edith und den Töchtern Margot und Anne, die er an seine Mutter Alice nach Basel richtet, am berührenden Opernabend zusammen mit Liedern von in KZs ermordeten Dichtern und Komponisten hören konnte. Die anderen früheren und späteren Briefe verlas dann der Schauspieler, der auch in der jüngsten hr-Dokumentation über Otto Frank den Vater von Anne Frank spielt: Götz Schubert.
Zuvor aber ging Moderatorin Ruth Fühner noch einmal darauf ein, daß just vor sieben Jahren am selben Ort das Buch der Mirjam Pressler seine Premiere hatte, was zur Frage führt, welche Karriere das Buch gemacht hat. Wenn bisher nicht, so doch durch das Lesefest, ging den Zuhörern durch den Kopf. Aber GRÜSSE UND KÜSSE AN ALLE war auch zuvor ein Erfolg, was sich durch dieses Lesefest mit fast 100 Veranstaltungen potenziert. Schwierig zu beantworten, was am schönsten, am eindrucksvollsten gewesen sei, befand Mirjam Pressler. Für sie persönlich seien die Schulen etwas Besonderes gewesen, ganz vorne die Weißfrauenschule, die eine Sprachbehindertenschule ist, deren Schüler sich besonders sorgfältig und kreativ vorbereitet hätten.
Natürlich ging es auch um das Dabeisein von Gerti Elias, die nach dem plötzlichen Tod des Mannes, so erzählt Mirjam Pressler, nicht hat kommen wollen, dann aber ihre Anwesenheit wie eine Verpflichtung gesehen habe, denn ihr Mann, der Lieblingscousin von Anne Frank, hatte sich ungeheuer auf diese zwei Wochen in Frankfurt gefreut, die für ihn die ideelle Rückkehr der Familie Frank-Elias nach Frankfurt bedeutet hätte. Und die dankbaren Zuhörer können nur sagen, daß dieses Lesefest ohne die Anwesenheit von Gerti Elias, ihre liebevollen und sachkundigen Informationen aus der Familie- und die köstlichen gemeinsamen Auftritte mit Mirjam Pressler in verteilten Rollen und doch derselben Richtung - nicht dasselbe gewesen wäre.
Das konnte man gleich überprüfen, denn sie fehlte uns an diesem Sonntagvormittag sofort: Gerti Elias. Leider aus gutem Grund. Denn just zum selben Termin hatte der Anne-Frank-Fond in Basel die Trauerfeier für Buddy Elias abgehalten.So konnte sie nicht mehr das Bonmot der unglaublich durchhaltefähigen Mirjam Pressler hören, die sagte: „Ich kenne keine Familie so gut wie die Franks.“ Nicht mal die eigene. Wozu auch diejenigen, die über eine Großzahl der Veranstaltungen berichtet haben und notgedrungen das Buch immer wieder lasen – was geht, denn es steckt voller Informationen, die man besser nach und nach aufnimmt – nur noch mit dem Kopf nicken konnten: Ja, man kennt die Franks besser als die eigene Familie, erst recht, was die Groß- oder sogar Urgroßeltern angeht.
Götz Schubert las dann vor allem die Passagen, in denen Otto seiner Frau Edith schreibt, sein fünfzigster Geburtstag war gleichzeitig der 20ste Hochzeitstag. „Du weißt, das Feiern mir nicht liegt...“ Man kann aus den Briefen eine gewisse Distanz herauslesen, aber auch eine gemeinsame Verantwortung für die Familie, für die beiden Töchter Margot und Anne. Sie seien sich durchaus in ihrer Introvertiertheit ähnlich gewesen, die beiden, die wohl auch nicht aus Zufall und Liebe geheiratet hätten. Viel spricht dafür, daß ein gemeinsamer Aufenthalt in San Remo nicht zufällig war, daß es also um eine arrangierte Ehe gegangen sei, die dem schon 35 jährigen eine reiche Erbin bescherte und ihr einen zuverlässigen Mann mit der gleichen ethischen Haltung.
Beide muß ihre so ganz anders geartete Tochter Anne, voll Phantasie und Ansprüchen an das Leben, ein Rätsel gewesen sein. Das ergeben besonders die Briefe, die Otto nach dem Krieg seiner Familie nach Basel schreibt. Denn erst einmal ist die Großmutter Alice ganz und gar nicht einverstanden, daß Otto die durch Zufall durch seine Ex-Angestellte geretteten Tagebücher publizieren möchte. Grundsätzlich gibt es zwei Tagebücher. Ein Original und eines, das Anne selbst für den Druck ad usum delfini neu geschrieben hatte, wobei sie aber nur bis zum Frühjahr 1944 kam, weshalb die Monate bis Anfang August, als sie verraten, verhaftet und verschickt wurden, dort fehlen, aber in der Originalfassung erhalten sind. Darum sind die durch Mirjam Pressler herausgegebenen Tagebücher textkritisch sinnvoller zu nutzen gegenüber der Ursprungsfassung, die Otto Frank damals herausgab. Mirjam Pressler läßt nicht zu, daß man ihn darob der Unterschlagung oder gar Fälschung der Tagebücher seiner Tochter zeiht. Ja, er habe gestrichen, immer da, wo er sie gegenüber der Mutter und anderen ungerecht fand, aber er hat kein eigenes Wort hinzugefügt, betonte sie ausdrücklich. Was nötig ist, denn man liest auch anderes, sie aber ist diejenige, die die Originale alle in der Hand hatte.
Auf jeden Fall berührten abschließend die von Götz Schubert angemessen männlich und sanft gelesenen Briefe, in denen der Vater seiner Familie schreibt, daß er erst durch die Tagebücher seine lebhafte Tochter richtig kennenlerne, ihre Tiefe, ihre Einsicht, ihren Durchblick, ihr Talent und ihre inneren Beweggründe, die ihn staunen lassen, weshalb er in ihr nur das junge Ding gesehen habe, das sich im Eingesperrtsein nicht gut zurechtgefunden habe.
Wir aber beschließen an dieser Stelle, wo das Lesefest mit der Familie Frank und ihren (überlebenden) Repräsentanten aus Basel: Großmutter Alice, Mutter, Schwester und Schwiegermutter Leni und Annes Lieblingscousin Buddy zu Ende ist, daß wir dringend wieder die Briefe der Anne Frank lesen müssen, in der Fassung, wie sie Mirjam Pressler ediert hat, wobei wir dann gleich auch noch ihr Biographie hinzunehmen. Dies alles ist im Fischerverlag erschienen und sowohl Ursache wie Hintergrund dieses Lesefestes, das in der Stadt Furore machte und vielen Menschen sehr viel bedeutete.
Foto:
Götz Schubert als Otto Frank im oben erwähnten Doku-Drama
INFO:
Mirjam Pressler/Gerti Elias „Grüße und Küsse an alle“
Die Geschichte der Familie von Anne Frank
Fischer Taschenbuch Verlag
432 Seiten. Kartoniert.
€ 10,99
ISBN 978-3-596-18410-1
Anne Frank Fond (Hrsg.): Gesamtausgabe. Tagebücher – Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus – Erzählungen – Briefe – Fotos und Dokumente. Übersetzt aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Fischer, Frankfurt am Main, 2013, 816 Seiten. ISBN 987-3-10-022304-3 Gesamtausgabe sämtlicher Texte von Anne Frank -- mit bislang unveröffentlichten Briefen und Schriften und vielen Fotos.
2016 findet »Frankfurt liest ein Buch« vom 11. April bis 24. April statt.
Berichte, Bilder von den Veranstaltungen und weitere Informationen zum Buch werden auf der Website zur Veranstaltungsreihe dokumentiert.
http://www.frankfurt-liest-ein-buch.de