David Le Breton in einer vielstimmigen Studie über das Gehen als Existenzweise; bei Matthes & Seitz, Berlin

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Lob des Gehens!

Endlich wieder einmal ein Lob. Lob des Gehens, Lob des Wanderns.

Der Autor verspricht in der Einleitung seines Essays, er wolle keine Gebrauchsanweisung für das Gehen, keine Anthropologie des Gehens vorlegen, sondern „mit Freude im Bauch“ über das Gehen sprechen.

 

Er wünscht sich Leserinnen und Leser, die quasi mit ihm gemeinsam gehen und Eindrücke austauschen, „als säßen wir in einer Herberge am Wegesrand zu Tisch, am Abend, wenn die Erschöpfung und der Wein Zungen lösen“.

 

Der Autor hält sein Versprechen, und als Leser hat man bei der Lektüre sehr wohl den Eindruck, sich mit David Le Breton prima bei einem guten Essen und einem Gläschen Wein über Erfahrungen beim Gehen und Wandern unterhalten zu können.

 

Erstaunlich, ja bewundernswert, was der Autor alles zum Gehen zu sagen, was er an literarischen Zeugnissen zum Wandern zusammengetragen hat. Sein zentrales Kapitel nennt er „Der Geschmack des Gehens“, er wählt also eine sinnliche Herangehensweise und die passt bestens zum Thema Gehen, das schließlich aller Sinne des Gehenden bedarf. Ein Gehen, das sich fühlen und schmecken lässt, erfordert allerdings eine bestimmte Einstellung. Ohne eine grundsätzlich positive, offene Haltung wird man dem „Lob des Gehens“ schwerlich zustimmen können. Mit einer solchen Einstellung jedoch wird man vielleicht sogar die „glücklichen Stimmungen“, die Robert Louis Stevenson beim Gehen sucht, finden, und einige werden Rousseau zustimmen, der schreibt: „Nie wieder habe ich so viel nachgedacht, war ich mir meines Lebens, meines Daseins so bewusst, nie war ich sozusagen mehr ich selbst als auf den Reisen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe.“

 

Damit die Leserinnen und Leser beim Philosophieren über Gehen und Wandern auf den Geschmack kommen, nähert sich Le Breton dem Sujet ganz behutsam. Die Stimmung in der Herberge am Wegesrand wird ja auch nicht mit dem ersten Gabelbissen auf dem Höhepunkt sein, aber nach und nach, das zeigen bereits die ersten Seiten des Buches, steigt sie unaufhörlich, und man kann und will den Band nicht mehr aus der Hand legen, wird ihn für die nächste Wanderung möglicherweise einpacken.

 

Le Breton spricht zunächst die wichtigen ersten Schritte bei jedem Gehen an, die, das räumt er ein, vor allem heutzutage nicht immer leicht seien. Im folgenden Unterkapitel erinnert er daran, dass wir, recht bedacht, in einem „Königreich der Zeit“ leben. Diejenigen, die gern gehen, nehmen sich die entsprechende Zeit, wenn sie denn wollen. Wer sie sich nimmt, fühlt sich reich an Zeit, er hat „die Muße, Stunden damit zu verbringen, sich ein Dorf anzusehen oder einen See zu umrunden, einen Hügel zu erklimmen, einen Wald zu durchqueren“.

Der Autor stellt sich Gehende vor, die ihre eigenen „Stundenmeister“ und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Nickt der Leser an dieser Stelle zustimmend, wird er vermutlich auch den folgenden Ausführungen beipflichten. Zum Beispiel, wenn Le Breton beschreibt, was das Gehen mit dem Körper des Gehenden macht: Wenn der Gehende auf seinen Atem achtet, den Zweig eines Baumes berührt, einen Stein in die Hand nimmt, unterschiedliche Gerüche wahrnimmt oder einfach innehält, um einem Vogel zu lauschen.

 

Le Breton, Soziologieprofessor in Straßburg, hat ein Standardwerk über den Schmerz geschrieben, und so geht er auch auf unangenehme Begleiterscheinungen des Wanderns ein, auf diverse Blessuren, deren Zahl, geht man lang genug, Legion sind. Was tun gegen Hautabschürfungen, Blasen? John Dundas Cochrane, der, Hut ab, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bis nach Kamtschatka wanderte, berichtet von einem Weggefährten, der die Wirksamkeit seiner Rezeptur beschwört: „Eine Mischung aus Alkohol und Kerzentalg, vor dem Zubettgehen auf die Füße gerieben, soll Blasen über Nacht verschwinden lassen.“ Le Breton geht auf die Schwere und Handlichkeit des Gepäcks ein und lässt verschiedene Autoren zu der Frage zu Wort kommen, ob Wanderungen allein oder in Gesellschaft vorzuziehen seien. Robert L. Stevenson, Henry David Thoreau und Jacques Lanzmann halten die „Einsamkeit des Gehenden“ für zwingende erforderlich, andere Autoren machen auf die Erfahrung der Solidarität bei Gruppenreisen aufmerksam.

 

Wichtig das Unterkapitel „Stille“. Le Breton legt den Finger in die Wunde der Modernität, welche aus seiner Perspektive vor allem „die Machtergreifung des Lärms“ ermöglicht. Wirkliche Stille erinnert ihn an Erfahrungen, die der Technik vorausgehen, an ein Universum ohne Motor, ohne Auto, Flugzeug. Der Autor plädiert, das ist für Leserin und Leser keine Überraschung, für die Entdeckung der Stille beim Gehen. Er kritisiert die Arroganz des Autofahrers oder derjenigen, die Züge oder Flugzeuge besteigen. Der Gehende bleibe im Gegensatz zu jenen auf der „Höhe des Menschen“ und könne ihm freundschaftlich begegnen. Können Sie sich an die Freundlichkeit von Autofahrern, Zugreisenden, Flugzeugpassagieren erinnern? Na also!

 

Angesichts der einhundertachtundzwanzigtausend Verkehrstoten allein in Europa“ und der „vielen Tierleichen, die die Straßengräben übersäen oder plattgefahren auf dem Asphalt liegen“ und all der „ignoranten Autofahrer, die das Massaker fortsetzen“, sollten Autofahrer, wäre der Vorschlag des Rezensenten, andere Gesichter aufsetzen.

 

Das Lob des Gehens“ wird zum Loblied, wenn Le Breton Philosophen oder Schriftsteller zu Wort kommen lässt.

Im Wandern liegt etwas die Gedanken Befeuerndes und Belebendes.“ (Rousseau)

Kierkegaard schreibt 1847: „Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde.“

Und von Nietzsche ist folgender Aphorismus überliefert: „Ich schreib nicht mit der Hand allein: / Der Fuß will stets mit Schreiber sein. / Fest, frei und tapfer läuft er mir / Bald durch das Feld, bald durchs Papier.“

 

Le Breton breitet ein Füllhorn an Beobachtungen und Gedanken zum Gehen und Wandern aus. Eine solche Fülle kann in einer Rezension nur in Ansätzen verdeutlicht werden. Zum Beispiel geht er auf Begegnungen mit Tieren ein, vergleicht er Spaziergänge mit Wanderungen, und er vermittelt in lebendiger, anschaulicher Weise Erfahrungen mit Sonne, Wind, Regen. Er thematisiert in dem Abschnitt „Reduktion der begehbaren Welt“ die Ausdehnung der Stadtgebiete, den Ausbau von Wegen, die alle möglichen Fahrzeuge in Wälder und Forste eindringen lassen. Durch die Ausweitung des Tourismussektors veränderten sich Verkehrsstrukturen. Der Fußgänger werde zum „anachronistischen Charakter“, für den eigenen Zonen eingerichtet werden, sogenannte Fußgängerzonen. Die Welt werde durch den Wahn jederzeitiger Zugänglichkeit fußgänger- und fahrradfeindlicher, und unbegrenzte Räume, „offen zum Durchstreifen, Staunen, Entdecken, schwinden zusehends“.

 

Im Kapitel „Grenzgänger“ lässt Le Breton berühmte Reisende zu Wort kommen: „Reise nach Timbuktu“, „Reise zu den Großen Seen“, „Weg nach Smara“: Faszinierende Reiseberichte. In zwei weiteren Kapiteln widmet sich der Autor ausführlich dem urbanen Gehen und der „Spiritualität des Gehens“.

 

Der Rhythmus des Gehens, das Hören, Sehen, Fühlen, Riechen beim Gehen sind in der Stadt anders als in der freien Natur. In der Stadt hat Gehen, das zeigt der Autor an vielfältigen Beispielen, einen eigenen Reiz, einen ganz besonderen Charme, wenn der in der Stadt Gehende inmitten des größten Getöses in der Stadt eine Haltung einnehmen kann, die „eine willentliche Abwendung der Belästigung … durch den Einsatz der Vorstellungskraft, die sie entschärft“, erfordert.

 

Begegnungen in der Stadt unterscheiden sich von denen auf dem Land. Während uns die Stadt einen Wald von Gesichtern zeigt, der Begegnungen erschwert, ist es ein Leichtes, auf einer Wanderung mit einer Person, der man begegnet, ins Gespräch zu kommen.

 

Wichtig der Hinweis des Autors, dass es für Patienten, die zum Beispiel an Krebs oder Multipler Sklerose erkrankt sind, organisiertes Gehen gibt, damit diese Selbstvertrauen gewinnen und innere Kräfte mobilisiert werden.

 

Le Breton hat einen beglückenden und bereichernden Essay über das Gehen geschrieben, und zwar für alle, die gern gehen, das Gehen endlich für sich entdecken oder wieder entdecken wollen. Wir gehen, schreibt er „Am Ende der Reise“ seines Essays, „um neue Bilder und Empfindungen aufzunehmen, neue Orte und Gesichter kennen zu lernen, einen Vorwand zum Schreiben zu finden, den Blick zu erweitern, ohne jemals zu vergessen, dass die Erde eher für die Füße als für den Reifen geschaffen ist, dass wir, wenn wir (schon; T. A.) einen Körper haben, es angebracht ist, ihn einzusetzen“ (Seite 178).

 

Lob des Gehens! Recht hat er, der Autor.

 

Dieses Buch, dieses liebenswürdige Plädoyer fürs Gehen, ist unbedingt zu empfehlen.

 

Und als nächstes würde ich gerne lesen: „Lob des Denkens“ und danach: „Lob des Fühlens“ und dann: „Lob des Schreibens“ und „Lob des Lesens“ und ganz zum Schluss: „Lob des Lebens“.

 

 

Info:

David Le Breton, Lob des Gehens, Berlin 2015, Matthes & Seitz

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