KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für August 2015, Teil 1
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Da müssen wir mitzählen, denn jetzt kommt es uns vor, als ob Merle Kröger schon viele Monate mit HAVARIE den ersten Platz besetzt. Und wären nicht die Regeln der KrimiBestenListe, daß irgendwann Schluß ist, dann würde das noch lange bleiben, denn ihr Roman ist nicht nur ein Krimi, sondern buchstäblich aus dem Leben gegriffen und wird jeden Tag aktueller. Von welchem Buch kann man das sagen.
Aber auch ohne Aktualität wäre es ein Wurf. Vier Schiffe sind es, deren Kollision in letzter Sekunde vermieden wird: ein Seenotrettungsboot (auch das noch), ein Frachter, ein Kreuzfahrtschiff und ein Schlauchboot voller algerischer Flüchtlinge. Schon diese vier unterschiedlichen Beförderer auf dem Wasser sind in Verbindung mit ihrer Funktion und ihren Insassen eine Wucht für sich. Wenn Sie sich das vorstellen, wer in welchem Schiff oder Boot wohl sitzt, steht, liegt, dann fallen auch Ihnen sofort Geschichten dazu ein. Die potentiellen Geschichten, gedreht aus den Lebenslinien, den Überlegungen, Sehnsüchten, Ängsten und vorgenommenen Handlungen der so unterschiedlichen Menschengruppen kreuzen sich alle hier vor der Küste Spaniens.
Daß jegliches eigene Handeln Konsequenzen hat für andere, ist ein Leitfaden, der sich durchzieht und einzelnen Menschen Mut macht, sich nicht auf dem vorgegebenen leichten Weg nur um sich zu kümmern, sondern verantwortlich zu handeln. Das alles wird geradezu schwebend erzählt, wie Wellen, die kommen und gehen. Man könnte des Stil auch assoziativ nennen. Merle Kröger war ja schon mit GRENZFALL auf der KrimiZEIT-JahresBestenListe 2013, wofür sie auch den Deutschen Krimipreis gewann. HAVARIE ist nun das dritte Mal dabei.
Auf Platz 2 folgt sozusagen aus dem Nichts und das erste Mal CUTTER UND BONE von Newton Thornburg, erschienen bei Polar. Darüber können wir noch überhaupt nichts sagen, werden das aber schnell nachholen. Ähnlich verhält es sich mit Friedrich Ani, wo wir geschlafen haben, denn daß DER NAMENLOSE TAG, in dem nicht mehr der bayerische Tabor Süden der Ermittler ist, sondern mit Jakob Franck ein pensionierter Kommissar aus der Mordkommission wieder ein sehr guter Krimi wird, war anzunehmen. Aber wir hatten den Wechsel von Ani vom Droemer Verlag zu Suhrkamp, über den wir auch nichts wissen, überhaupt nicht mitbekommen, dabei feierte Suhrkamp seinen neuen Autor schon auf der Buchmesse 2014.
Auf Platz 4 verweilt mit gutem Recht Gary Victor mit SORO, erschienen bei litraduct. Wer Haiti kennt, noch dazu weiß, daß originale Kriminalromane dort nicht alltäglich sind, freut sich, wie Kommissar Dieuswalwe Azémar als einsamer Kämpfer, der immer wieder aufgibt, sich aber immer wieder aufrafft, durch Haiti zieht, träumt, durchblickt und in einer Mischung von Anwesenheit und Abwesenheit die Schuldigen ans Messer liefert. Die literarischen Mittel des Autors sind dabei Sarkasmus bei der Schilderung der sozialen Zustände, die dem Leser, der unwissend wäre, die Augen öffnet, das aber verbunden mit der Magie des Landes und einem meist unterschwelligen Witz, den man manchmal erst später merkt und immer wieder Seiten und Abschnitte zurückschlägt und noch einmal mit neuem Bewußtsein liest. Hervorragend und das dritte Mal dabei und vom fünften Platz eins nach oben gerutscht.
Den diesmaligen fünften Rang nimmt mit einem Satz vom 10. Platz des Vormonats Antonin Varenne mit DIE SIEBEN LEBEN DES ARTHUR BOWMAN aus dem Bertelsmann Verlag ein. Dazu kann man nur sagen: EIN MANN TUT, WAS EIN MANN TUN MUSS. Das ist wirklich vor allem ein Roman für Männer. Ein Krimi ist es auch, aber doch eher ein historischer Roman, der mit einer gewissen Wehmut davon erzählt, wie das war, als man nur in einer engen soldatischen Gemeinschaft überleben konnte, daß aber beim Überlebenwollen in Kriegszeiten so viel Schreckliches passiert, was in den Friedenszeiten erst aufgearbeitet werden kann, weshalb erst jetzt auch untereinander gemordet wird.
Hier bleiben von einem schrecklichen Einsatz in Birma 1852, wo unsere Gruppe die Ostindienkompanie als Söldner unterstützt, die einst 300 000 solcher Männer als Privatarmee auf der ganzen Welt besaß, hier bleiben nur zehn Mann übrig. Die haben wir schon das letzte Mal aufgezählt, wobei mit Arthur Bowman derjenige Handlungsträger des Romans ist, der besonders heftig und grausam, aber eben auch durchsetzungsfähig und erfolgreich war. Er lebt inzwischen in London, es ist 1858 und eigentlich vegetiert er und versucht seine Fähigkeiten als Kloakenpolizist zu nutzen. Bis ihn eine Leiche in der Kanalisation so verschreckt, daß er sich zurück in Birma wähnt, denn der Tote trägt dieselben Folterspuren am Körper wie er – und wie die acht anderen, wie wir nach und nach erfahren.
Daß er nun gleich für den Mörder gehalten wird, macht die Sache schwieriger. Das Ganze vollzieht sich, wir schrieben es schon, wie die Geschichte von den zehn Negerlein: da waren's nur noch Neun. Ob er übrig bleibt, ob er alleine übrige bleibt, und was die Neue Welt, in die er zieht, um den Mörder von London zu finden, damit zu tun hat, das wollen wir nicht verraten. Aber sagen muß man, daß wir auch von der Läuterung eines wilden Mannes zu einem verantwortlichen Menschen lesen. Sehr vielschichtig ist das Buch, aber eben auch, wie gesagt, vor allem für Männer und solche, die es werden wollen. Fortsetzung folgt.
Die KrimiZEIT-Bestenliste August 2015
INFO I :
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenListe
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 6 August 2015 mit Tobias Gohlis gegen 9.20 Uhr sowie später in den Sendungen der „Buchpiloten2, nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
- für die Wochenzeitung DIE ZEIT am 6. August 2015 unter www.zeit.de/krimizeitbestenliste_2014
Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, SWR
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lore Kleinert, Radio Bremen
Elmar Krekeler, Die Welt
Kolja Mensing, Dradio Kultur
Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*
Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin
Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
Jochen Vogt, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2013 ebenfalls kommentierten.
JahresBestenliste 2013
INFO II :
Am 23. Juni teilte der Jurysprecher Tobias Gohlis mit:
Hannes Hintermeier (FAZ) und Elmar Krekeler (WELT) neu in der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste
Seit Juni 2104 verstärken Hannes Hintermeier, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., und Elmar Krekeler, stellvertretender Feuilletonchef der WELT-Gruppe, die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste.
Die Jury, die monatlich die zehn besten Kriminalromane aus der Fülle der Neuerscheinungen auswählt, besteht damit aus 19 Kritikerinnen und Kritikern, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlichen.
Hannes Hintermeier, Jahrgang 1961, hat Anglistik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Nach dem Staatsexamen 1988 absolvierte er die Deutsche Journalistenschule in München. 1990 bis 1996 war Hintermeier Literaturredakteur bei der AZ, dann in der Kulturredaktion der „Die Woche“ tätig. Seit 2001 ist er im Feuilleton der F.A.Z. Stellvertreter des Ressortleiters, aktuell Redakteur für „Neue Sachbücher“.
Seit Frühjahr 2014 betreut er mit weiteren Kollegen die FAZ-Krimi-Seite, die alle fünf Wochen versucht, „mit ausgewählten Beispielen der ganzen Bandbreite des Genres gerecht zu werden“.
Hannes Hintermeier über zwanzig Jahre Krimi-Erfahrung: "Am Krimi fasziniert mich die ungeheure Entwicklung, die das Genre in den letzten zwanzig Jahren weltweit gemacht hat. Der Krimi vereint einen Gegensatz, indem er gleichzeitig immer lokaler und universeller geworden ist. Ärgerlich finde ich manches buchindustrielle Kopier-Verhalten - merke: Erst wenn der letzte Serienmörder gefasst ist, werdet ihr merken, dass man
Hannibal Lecter nicht toppen kann."
Elmar Krekeler, geboren 1963, kam nach einem Studium der Musikwissenschaft 1989 als Redakteur ins Feuilleton der WELT, wo er sich zunächst der klassischen Musik widmete, bis er 1994 Literaturredakteur wurde. Von 2001 bis 2011 leitete er die „Literarische Welt“, wo er von 2005 bis 2010 mit verantwortlich für den Vorgänger KrimiWelt-Bestenliste war.
Seit 2012 schreibt er wöchentlich die Krimi-Kolumne „Krekeler killt“. Krekeler wurde 2004 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet und ist derzeit stellvertretender Feuilletonchef der WELT-Gruppe.
Krimis umgeben ihn von Kindesbeinen an. Elmar Krekeler: „Mein Vater war ein geradezu manischer Krimi-Sammler. Wir hatten u.a. die Gesamtausgaben von Agatha Christie, Victor Gunn, Arthur W. Upfield und Edgar Wallace im Regal stehen. Meine mittlere Jugend bestand aus roten Goldmann-Krimis, die schleichend die "Fünf-Freunde"- und ???-Ära ablösten.“
Ich freue mich, dass diese beiden renommierten Literaturkritiker und Feuilletonisten die monatliche Suche der KrimiZEIT-Bestenlisten-Jury nach dem intellektuell anregenden, spannenden und literarisch reizvollen Kriminalroman unterstützen. Gute Kriminalliteratur ist für das Verständnis und die Gestaltung unserer schwer durchschaubaren Welt von existenzieller wie ästhetischer Bedeutung.
Foto:
Weil wir die Erstplazierte schon abgebildet hatten, bzw. ihr Buch, folgt diesmal der Aufsteiger Antonin Varenne: Die sieben Leben des Arthur Bowman, verlegt von C. Bertelsmann