Eine politische Biographie von M. ?ükrü Hanio?lu aus dem Theiss Verlag

 

Heinz Haber

 

Darmstadt (Weltexpresso) – Der Theiss Verlag, nun schon länger Teil des Kultur- und Wissenschaftsimperiums der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, ist für viele Themen gut. Wir nutzen vor allem seine archäologischen Bildbände, bei denen man nie sagen kann, was besser ist: Text oder Bilder. Jetzt sticht er mit einer absolut aktuellen politischen Biographie hervor.

 

Wer je in der Türkei war, der weiß, daß das Heute und das Gestern sich die Hand geben und keiner weiß, was das Morgen bringt. Wie jemand wie Atatürk es fertigbrachte, die so heterogene und als Staat niederliegende Gesellschaft zu einen, vor allem, sie auf Hauruck zu modernisieren, darüber kann man nur den Kopf schütteln. Das ist bei uns viel zu wenig bekannt. Die Leistungen Atatürks sind das eine, ob sie auf Dauer fruchten, nämlich wirklich tief im Volksgedächtnis verankert sind, das andere.

 

Heute schauen wir mit Besorgnis auf die Türkei, deren Führung gleichzeitig gegen den Islamischen Staat und die kurdische PKK kämpft. Welche Rolle kann da noch der Staatsgründer Mustafa Kemal spielen, der von 1923 bis 1938 die Geschicke des Landes bestimmte? Das war der Ausgangspunkt und die Antwort: Eine große – so wird es in der neuen politischen Biographie ›Atatürk‹ von M. Şükrü Hanioğlu deutlich. Er zeigt die Leistung des Mannes, der bis heute in der Türkei verehrt wird, und auf den sich jede politische Gruppierung in den unterschiedlichsten Ausprägungen zu berufen versucht – so auch Recep Tayyip Erdoğan. Das Buch erscheint am 16. September im Theiss Verlag.

 

 

Atatürk‹ von M. Şükrü Hanioğlu

 

Er war der Visionär einer modernen Türkei und formte einen neuen Staat: Mustafa Kemal, der erste Präsident der türkischen Republik, der in Thessaloniki geboren wurde, wo es heute kaum noch Türken gibt, damals aber das Osmanische Reich überall war. Nach militärischen Erfolgen im Türkischen Befreiungskrieg gelang es ihm, 1923 an die Macht zu kommen. Als Machtpolitiker und Symbolfigur eines neuen starken Nationalbewusstseins trieb er die Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild voran.

 

Er brach mit den alten Traditionen, schuf Sultanat und Kalifat ab, orientierte sich auch in seiner Gesetzgebung am Westen. Der Staatsgründer bekam 1934 den Beinamen „Atatürk“ (Vater der Türken) verliehen. Eckpfeiler für seine Vorstellungen von einer modernen Türkei waren zahlreiche philosophische und staatstheoretische Einflüsse und Prinzipien wie unter anderem der Laizismus und der Nationalismus. M. Şükrü Hanioğlu konstatiert, dass man sich Atatürk nicht als Theoretiker vorstellen darf, sehr wohl aber als Pragmatiker und Führungspersönlichkeit, der seine Visionen einer modernen Türkei in die Tat umsetzen konnte.

 

 

Atatürks Reformen – Beispiel Frauenbewegung

 

Atatürks Wunschbild war die gleichberechtigte, moderne Frau in der türkischen Gesellschaft: gebildet, national-patriotisch, nach westlicher Mode gekleidet, berufstätig und säkular. Sein Wunschbild wurde schrittweise umgesetzt –1926 erhielten die Türkinnen weitgehende Rechte, wie sie auch im Schweizerischen Zivilgesetzbuch festgehalten waren. 1930 folgte das aktive Wahlrecht auf kommunaler Ebene, 1934 das passive nationale Wahlrecht. Ein Kopftuchverbot, wie es radikalere Kräfte forderten, fand jedoch nicht die Unterstützung Atatürks, wohl aus Vorsicht vor den Traditionalisten. Stattdessen versuchte der Präsident, durch die Adoption moderner türkischer Frauen Vorbilder zu schaffen. Dazu gehörten die Kampfpilotin Sabiha Gökçen und die Historikerin und spätere Geschichtsprofessorin Âfet İnan.

 

 

Atatürks politische Vereinnahmung

 

Da er viele politische und philosophische Strömungen in sein Weltbild – den sogenannten Kemalismus – einbezog, entstand keine feste Ideologie. Dieses ideologisch Flexible macht es möglich, dass der Kemalismus und die damit verbundene Heldenverehrung des Staatsgründers bis heute von allen politischen Gruppierungen für die eigenen Ziele genutzt wird. So behauptete Necmettin Erbakan – Islamistenführer und späterer türkischer Ministerpräsident – bereits in den 80er Jahren: „Wenn Atatürk heute leben würde, wäre er ein Anhänger der ‚Islamischen Sicht‘ geworden.“ Eine Sichtweise, die zu allen Bestrebungen Atatürks in fundamentaler Opposition steht. Doch überstand der Kemalismus als chamäleonartige Ideologie alle Zeitgeistströmungen – war sowohl autoritär-nationalistisch als auch liberal-demokratisch auslegbar.

 

In Hanioğlus umfassender Biographie erscheint Atatürk ganz als ein Kind seiner Zeit – der Zeit des Nationalismus und der autoritären Herrschaften. Der Biograph will Atatürk in den historischen Kontext seiner Zeit einbetten, seine intellektuelle Entwicklung nachzeichnen und durch die Analyse von Atatürks Leben, seinen Vorstellungen und seinem Werk zu einer neuen Sicht auf den prekären Übergang vom spätosmanischen Reich zum modernen türkischen Nationalstaat beitragen. Dadurch ergibt sich auch eine Neubewertung des kemalistischen Erbes in der heutigen Türkei. Viele der Reformprozesse, die auf Atatürks Visionen zurückgehen, wirken noch bis heute nach.

 

 

INFO:

 

M. Şükrü Hanioğlu

Atatürk. Visionär einer modernen Türkei

Aus dem Englischen von Tobias Gabel

Theiss Verlag - WBG

2015. 320 S. mit 16 s/w Abb., 3 Kt., Zeittafel, Bibliogr. und Reg.,

Preis: € 29,95 [D]

ISBN 978-3-8062-3111-3

Erscheint am 16. September 2015

 

M. Şükrü Hanioğlu legt eine tiefgehende und differenzierte Biographie des beeindruckenden Staatsmannes Mustafa Kemal vor. Er zeigt, welche Strömungen und Ideen den Gründer der modernen Türkei beeinflussten, um ein Land von Grund auf zu verändern. Dabei blickt er auch auf die Wirkung und Wahrnehmung Atatürks in der heutigen Türkei.

 

Über den Autor

 

  1. Şükrü Hanioğlu ist einer der international namhaftesten Experten für die Geschichte des späten Osmanischen Reiches und seit 1990 Garret Professor für Foreign Affairs am Department of Near Eastern Studies der Princeton University. Vor seinem Umzug in die USA lehrte er in Istanbul.