Serie: Fred Vargas DIE NACHT DES ZORNS aus dem Aufbau Verlag (Teil 1/3)

 

Claudia Schulmerich

 

Hamburg (Weltexpresso) – Wie gut, daß es Eisenbahnfahrten gibt, wie gut, daß sich eine Fred Vargas, hat man erst einmal angefangen, wie von alleine liest, wie traurig, wenn man auf Seite 453 von DIE NACHT DES ZORNS unwiderruflich am Ende ist, obwohl man die Seiten weiterblättert in der Hoffnung, daß  sich irgendwo dann doch noch einige Sätzchen finden über diese Leute, mit denen man einige Zeit verbracht hat.

 

Denn wer der Mörder ist, wen interessiert denn das? So geht es einem mit den Kriminalromanen der französischen Krimikönigin, die eigentlich Archäologin ist. Romane, die man nicht wegen der Jagd nach dem Mörder nicht aus der  Hand legen will, sondern weil einem das äußerst skurrile Romanpersonal ans Herz gewachsen ist, das man ja nun schon aus so vielen Romanen um den seltsamen Kriminalkommissar Adamsberg – wer heißt denn so in Frankreich? - aus dem Pariser 13. Arrondissement, eigentlich kommt Jean-Baptiste jedoch aus Béarne – kennt. Einer ist seltsamer als der andere und am seltsamsten diese Violette Retancourt.

 

Diese nämlich löst in den einen einen Schock ob ihrer Schönheit aus – so wie Schönheit immer nur in den Augen des Betrachters liegt – , wie in den anderen Angst vor ihrer walkürenhaften Gestalt – das ist von uns jetzt nett ausgedrückt -, in wiederum anderen Menschen das kalte Grausen ob ihrer messerscharfen Intelligenz, die sie auch einsetzt, was man nicht von allen auf diesem Kommissariat behaupten kann, nicht mal vom Chef, dem Adamsberg. Von dem sogar ganz besonders nicht, würde er selber sagen, der eigentlich auch nicht recht weiß, weshalb ihm gerade im somnambulen Zustand die meisten Lösungen regelrecht vor die Füße fallen (hier: der Brotkrumenmörder, einfach genial!) und nicht intellektuell von hohen Bäumen gepflückt, wie das der getreue Adrien Danglard kann.

 

Diesem Danglard gebührt ein besonderer Platz im Kommissariat. Er verbindet höchste Gelehrsamkeit mit Alkoholsucht, was niemand so nennen täte, denn je gebildeter einer ist – und er ist es in der Tat, weshalb wir bei Fred Vargas immer auch gehörig Geschichtliches dazulernen - , je gebildeter also einer ist, desto eher sagt einem der gesunde Menschenverstand, daß sich mit und beim Wein besser denken läßt. Und das tut er und kann er dieser Danglard, der uns nur immer befürchten läßt, daß seine Schwermütigkeit sich zu echten Depressionen auswachsen, was nicht nur seiner Ermittlungsarbeit wegen nicht geht, sondern auch der fünf Kinder wegen nicht, die er alleinerziehend bewältigt oder sie ihn.

 

Ob es der  Nachbar Lucio ist, der immer an den Baum pinkelt, vorsichtshalber lieber in der Abendwärme, ob es der auf einmal aufgefundene Sohn ist, der eigentlich Armel heißt (Armel Adamsberg?), aber Zerk genannt wird, und auf derart liebevolle Art die schon dem Tod geweihte Taube diesem entreißt, die es sich daraufhin im Schuh (welchem, dem rechten oder linken?) von Adamsberg gemütlich macht, denn was ist das Leben draußen, gegen den Schutz im Geruch eines abgelaufenen Schuhs? Aber daß die Taube trotz der barbarischen Attacke eines feinen Pinkels, der ihr die Beine zusammenband, worauf sie mit dem Sterben schon anfing, daß sie also weiterlebte, das hat sie Violette Retancourt zu verdanken, die also noch eine Facette hat, die wir bisher nicht kannten.

 

Und das ist es, warum wir hier endlos berichten könnten, von dem literarischen Personal der Fred Vargas: auf der einen Seite kennen wir nun alle Pappenheimer, denken wir, und darum ist das Wiederauftauchen und Erinnern an die Macken und Problemchen der einzelnen eine tiefes Vergnügen. Aber, das merken wir dann mit frohem Erstaunen, es ist gepaart damit, daß sich die Figuren weiterentwickeln. Daß sie bei allen Eigenarten, die sie und die Autorin pflegen, doch lernfähig sind und wir mit ihnen und so anrührende und geradezu bewegende Annäherungen von einander verabscheuenden Stützen des Kommissariats erfolgen, wie die von Danglard und Veyrenc, der wie Adamsberg in den Pyrenäen aufwuchs und die hohe Literatur auf den Lippen trägt.

 

Fred Vargas, die Nacht des Zorns, Aufbau Verlag 2012