POSTSKRIPTUM von Alain Claude Sulzer, erschienen bei Galiani Berlin, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Aus der Zeit gefallen ist nicht das Schicksal des jüdischen und homosexuellen Schauspielers Lionel Kupfer, den das naziverseuchte Deutschland aus seiner Heimat vertreibt, sondern der Ton, in dem von ihm erzählt wird, so abgehoben, undramatisch, auch gewissermaßen beiläufig durch ihn selbst wird uns referiert, was dessen Innerstes zusammenhält.

 

Stärker nämlich als die Verfolgung durch die Nazis, die unmittelbar nach dem Romanbeginn, der 1933 spielt, einsetzen, sind es innere Erinnyen, die den Lebensweg des 1988 geborenen und in Wien aufgewachsenen Lionel begleiten und sicher auch zuständig sind für die Verhaltenheit, für das jeglicher Extrovertiertheit abholde Gebaren des Schauspielers als Privatperson, der doch in seinen Rollen das Gegenteil, Gemütsbewegung, Gestimmtheit, sich wichtig machen, die Zuschaueraugen auf sich ziehende Verhaltensweise benötigt, um so berühmt zu werden, wie es in POSTSKRIPTUM dieser Lionel Kupfer ist.

 

Das ist eine interessante Ausgangsposition und die Erinnyen haben mit dem Vorfall zu tun, von dem wir im Prolog hören und mit dem das Buch auch endet, dem Tod des älteren Bruders Tobias am Neusiedler See, der Badewanne der Wiener, wo die Familie jährlich den Sommer verbringt und wo 1984 Tobias ertrinkt. Der lebensfrohe und aktive Tobias, Liebling der Mutter, ist just das Gegenteil von Lionel, der zurückhaltend, leicht passiv das Geschehen der Welt beobachtet, ohne es weiter zu gestalten. „Lion war ein fröhliches, etwas unnahbares Kind, und niemand versuchte, ihn auf einen anderen Weg zu bringen.“ (11) Nein, Lionel ist nicht schuld am Tod des Bruders, aber er hat die verbotene Zone, wo die Mutter den Leichnam des Sohnes im Arme hält, betreten und das, was er sieht, läßt ihn ein Leben lang nicht mehr los. Die Sommerfrische trägt das Totenantlitz und der Bruder ertrank ob seiner Obsession Tiere zu jagen, weil er das tote Geschöpf noch in den Fingern hält, als er selbst stirbt. Das ist schauerlich.

 

Und daß mit dem Tod des Bruders auch etwas in Lionel Kupfer gestorben ist, bzw. daß dieser Tote immer mit ihm weiterlebte, das erfahren wir erst ganz am Schluß, eben im Postskriptum 1963, dem letzten Kapitel, das dem Buch seinen Titel gibt. Dort schreibt er nämlich einen Brief, und erst in dessen Postskriptum – Sie bekommen hier die formalen Verschachtelungen mit, wie der Autor diese Geschichte komponiert und konstruiert, die gleichzeitig die tränenden Zwiebelschalen von Lionel Kupfers wirklichen Empfindungen sind – spricht er von der Bedeutung des Erlebten. Wir haben die Vorgänge um den toten Bruder ja in dem chronologischen Bericht mit Rückblenden erfahren, aber die seinen Mitmenschen gezeigte beiläufige Emotion, die Kupfers Rolle in der Welt wurde, deren Ursache können wir erst jetzt erfassen.

 

Es kommt aber noch raffinierter, denn das Miterleben des Unglücks, das Mitansehen des Vaters, wie er den toten älteren Bruder im Arm hält, wird gleichzeitig zur Geburt seiner Schauspielkunst. Er schreibt an Walter: „Erinnerst du dich an den Erlkönig, ein Gedicht, das hier außer uns alten Emigranten kkaum einer kennt? Nicht einmal Goethe kennen sie, aber was, bitte, macht das schon...“(247)Und schreibt dann hastig weiter von sich als Zwölfjährigem, wie ihm in Wien die Balladensammlung seines Vaters in die Hände fiel und er darin den Erlkönig entdeckte, den schon sein Vater auswendig kannte, und er in dessen Schicksal mit dem toten Sohn im Arm den Erlkönig wiedererkannte, was ihn – den Zwölfjährigen zwang, das Gedicht in seinem Zimmer in der Dramatik zu rezitieren, mit der er selber Vater, Mutter, toten Bruder in der Szene am Neusiedlersee erlebt und dieses Bild im Unterbewußtsein fest gespeichert hielt, was ihm erst wieder beim Schreiben an Walter 1963 ins Bewußtsein dringt. Die Mutter hatte ihn überrascht, wütete mit ihm, fühlte sich vorgeführt. Er aber wußte, daß er Schauspieler würde und hatte mit dem Vortrag des Erlkönigs Triumphe gefeiert. Übrigens hatte auch Walter damals im Januar 1933 schon eine Schallplatte vom Erlkönig von Kupfer besessen. Es schließt sich ein Kreis, wir sind aber längst nicht fertig. Fortsetzung folgt.

 

 

Info:

Alain Claude Sulzer, Postskriptum, Galiani Berlin 2015