POSTSKRIPTUM von Alain Claude Sulzer, erschienen bei Galiani Berlin, Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Er zeichnete auch das, was er nicht sah“ (11), diese Charakterisierung des kleinen Jungen vergißt der älter gewordene Schauspieler viele Jahre, bis er kurz vor seinem Tode den Stift wieder zur Hand nimmt. Das nun wiederum wissen wir nur, weil ein Postskriptum 1963 genannter Epilog die Bedeutung des Zeichnens einem erst entschlüsselt.
Diese 50 Jahre vom Januar 1933 bis zum Tod des Lionel Kupfer in New York begleiten wir den Schauspieler, den wir auf der Höhe seiner Berühmtheit in seinem Erholungsurlaub in der Schweiz im gehobenen Hotel Landhaus kennen lernen, mit ihm dann Verlust, Exil sowie Wiederkehr und dessen Auf und Ab als Darsteller teilen.
Dem Leser geht das Schicksal des sechsjährigen Lionel sichtlich näher als dem groß und berühmt gewordenen Schauspieler, der noch in Lemberg geboren wurde und der mit der galizischen Tradition seiner Vorfahren wenig zu tun hat, längst in Berlin ein gefeierter Stummfilmstar der Zwanziger Jahre wurde und einer der wenigen war, die dank einer melodiösen Stimme im Tonfilm erst recht reüssierte. Das funkelt, wenn dann kurz eingestreut, seine Filme mit Partnerinnen wie Marlene Dietrich bestückt sind, von der er natürlich nur als Marlene spricht, so wie Herta und Hedda und Helene und Hans ganz selbstverständlich vorkommen, klar, Hans ist der Albers und die anderen kennen Sie auch. Marlene wird er dann in Amerika wiedersehen und dort im Kino Greta Garbo treffen, aber wir sind ja erst im Januar 1933, wo der so auf die kleinen Feinheiten des Lebens und des Hoteldaseins achtende Schauspieler im Waldhaus in Sils Maria der gehobenen Lebensart frönen wird, die er liebt. Mit Champagner und so.
Nein, nein, keine Erinnerung an den Zauberberg, hochliterarisch oder auch philosophisch geht es hier nicht zu und die so eigenartige Stimmung, die die Beschreibung und die wörtlichen Aussagen der den Roman tragenden Person in uns auslöst, erfährt eine Wendung, als wir mit Walter einen sehr diesseitigen Schweizer kennenlernen, der als unehelicher Sohn einer braven Wäscherin-Büglerin-Aufwärterin es zum Schalterbeamten des Postamts in Sils Maria gebracht hat.
Wir sagen es gleich, daß uns einzig die Darstellung dieser Theres' naheging, mit deren Analphabetismus und tiefer Sohnesliebe dem Autor ein wunderbares Porträt vergeblicher Mutterliebe gelang, die ja letzten Endes nicht auf Wiedergeliebtwerden angewiesen ist, auch wenn es schön wäre. Daß sie am Ende kleinkariert reagiert, als sie endlich die sexuelle Orientierung ihres Sohnes Walter entdecken muß und dann gleich ihre staunenden Augen, als sie vor Jahren ihren Sohn Walter neben dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer im Waldhaus sitzen sah, im Nachhinein zu wissenden Augen werden und sie sich ob dieser Erkenntnis angewidert schüttelt, das gehört bei diesem Porträt dazu.
Wir aber wissen das von Anfang an, denn dieser Walter bringt die Geschichte ins Rollen, weil er die abgehende Post seines Schwarms inspiziert und wie im Krimi beim Ablösen der Briefmarke von Lionels Brief nach Wien dem Geheimnis von Liebhaber und/oder Liebhaberin auf die Spur kommt. Vom Adressaten, diesem ominösen Eduard, den der Schauspieler liebt, und dessen älterer Ehefrau Gina, einer berühmten, aber nicht guten Opernsängerin, hätten wir gerne mehr erfahren, als dessen Zuträgerschaft den Nazis gegenüber und seinen guten Geschäften, die er mit ihnen als Kunsthändler machte.
Der heimliche Liebhaber kommt überraschend ins Waldhaus, aber nicht um die Liebe zu pflegen, sondern den arrivierten Filmstar aufzuklären, daß die Berliner Produktion die Besetzung der Rolle im nächsten Film mit ihm gestrichen habe, er als Jude auch keine anderen Aufträge mehr erhalte, was zur Konsequenz führt, daß er aus Sils Maria direkt in die USA emigriert. Dort hören wir nur nebenbei von den Schwierigkeiten, sich als Schauspieler durchzuschlagen, denn die gehabte Prominenz kann er nie wieder erreichen, bekommt aber eine Oscarnominierung.
Als dann aus Rom das Angebot von Visconti eintrifft, in seinem geplanten Film Bellissima eine Nebenrolle zu übernehmen, in der er sich selber als ehemals berühmter und nun abgetakelter Filmstar spielen soll, sagt er zu und fliegt nach Europa. Daß genau diese Szene im später gefeierten Film zum Bedauern des Regisseurs leider herausgeschnitten wurde,hören wir später beiläufig. Wir erleben, daß Lionel Kupfer seinen kurzfristigen, aber letzten europäischen Liebhaber Walter, der inzwischen Steward geworden ist, in der Maschine nach Rom übersieht, der ihn aber sofort erkennt, was auch Kupfer während des Fluges gewahr wird, er aber nicht darauf reagiert. Immerhin erwidert er lange Zeit, nachdem ihm Walter aus Europa nach New York geschrieben hatte, daß er ihn während des Fluges erkannte und bediente, dann doch endlich dessen Brief und gibt zu, daß auch er ihn wiedererkannt hatte. Und diesen Rückbrief schrieb er auch nur, als er in den Nachrichten von einem Flugzeugabsturz in der Schweiz hörte, bei dem alle Insassen ums Leben kamen und sich die Maschine sechs Meter tief in die Erde bohrte. Dann aber ist er so ehrlich, nicht nur das Wiedererkennen zu gestehen, sondern auch seine Scham von heute, daß er vor zehn Jahren darauf nicht reagiert habe.
Auch wenn hier die Personen wie in einer Versuchsanordnung im Leben des Lionel Kupfer kommen und verschwinden, wieder auftauchen, ob tot oder lebendig, wieder ins Nichts fallen, wenn also dies eine raffinierte literarische Komposition ist, weil man ständig das Schicksal dieses sich gelassen gebenden Schauspielers mit dem Verschwinden der Menschen im 20. Jahrhundert, ob in den KZs oder Kriegen, ja dem Verschwinden des ganzen Jahrhunderts identifiziert, ist die Tonlage doch eine gewollte, wo die Form sich über die Materie legt.
P.S.: Lange Zeit vermutet man beim Lesen, daß sich Sulzer hier an einem Reigen a la Schnitzler versucht. Denn immer liebt einer, der nicht zurückliebt, aber einen anderen liebt. Das fängt mit der Mutter des Walter an, die Walter nicht liebt, der sich aber in die Hauptperson Lionel Kupfer verliebt hat, der wiederum Eduard aus Wien verfallen ist...hier stockt es aber schon, denn weder bekommen wir bei der blaßen Figur Eduard dessen tiefere menschliche Regungen mit, noch hat Lionel Kupfer wirklich so geliebt, wie er glaubte. Denn mit dem Verlassen Europas hat er Eduard vergessen. Beiläufigkeit auch hier. Aber die Gründe dafür, das macht den Roman von 251 Seiten aus.
Foto: der Autor
Info:
Alain Claude Sulzer, Postskriptum, Galiani Berlin 2015