Streichquartett von Anna Enquist, Luchterhand Verlag, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Selten waren in einem Roman so viele Menschen versammelt, die alle auf ihre Weise eine tief in ihr Leben eingreifende Beschädigung aufweisen, der sie mehr oder weniger trotzen, wozu nicht zum geringen Maße die Musik beiträgt, die diese vier Menschen im Streichquartett vereint.

 

Dabei heißt der Roman im niederländischen Original nur Quartett, was die Vierer-Musikformation zwar einschließen kann, sicher aber erst einmal stärker auf die seelischen und alltäglichen Binnenbewegungen dieser vier Personen bezieht. Und um die geht es. Da ist das Ehepaar Carolien, eine Ärztin, und ihr Mann Jochem, der Holzinstrumente bauen kann, in der Regel aber nur repariert, dazu gehört auch Hugo, der bisher das örtliche Musikzentrum leitet, keine Frau mehr hat, aber die gemeinsame Tochter mitbetreut und auf dessen Hausboot sich die vier zum Musizieren treffen, wozu also auch Heleen gehört, die in der Praxis als Arzthelferin zusammen mit Carolien arbeitet. Die leicht korpulente Heleen ist verheiratet und hat drei Söhne, aber trägt soviel soziale Fürsorge in sich, daß dies für einen anonymisierten Briefwechsel mit einem wegen Körperverletzung einsitzenden Strafgefangenen reicht. Das geht noch übel aus.

 

Für alle vier Musiker bedeuten die Proben etwas Besonderes, die zusätzlich spannend werden, wenn es zu Aufführungen kommt, was sehr intim wird, wenn es für Freunde wie Daniel zu einem Geburtstagsständchen kommt. Die Proben: „Sie fangen immer mit Bach an. Kunst der Fuge. Alle Stimmen gleichwertig, wenig Unterschied in der Dynamik, kein übertriebener Ausdruck. Sorgfältig und sauber muß es sein. Einer nach dem anderen setzt ein, das Stimmgeflecht wird zusehends verschlungener. Man muß sich zurücknehmen, wenn ein neuer Einsatz kommt, das Thema hat Vorrang. Manchmal hat man taktelang Pause...Die Bratsche gerät aus dem Takt. Neuer Anlauf. Die zweite Geige ist zu laut und übertönt den Einsatz der ersten. Das Cello hat Probleme mit der Intonation und nimmt den anderen Instrumenten dadurch ihren Glanz. Wenn der Bass nicht sauber ist, klingt nichts mehr gut.“, fängt das 14. Kapitel auf Seite 73 von 287 Seiten an.

 

Alle vier Musiker des Quartetts haben Leichen im Keller, die ihr Leben beschweren, doch beim Paar Carolien und Jochem sind dies wirkliche Leichen. Sie haben vor Jahren ihre zwei Söhne verloren, die bei einem Schulausflug zusammen in dem Bus saßen, der verunglückte. Sie können den Verlust nicht gemeinsam verarbeiten, sondern leiden stumm jeder für sich. Carolien hilft das gemeinsame Musizieren und gegen das Gefühl ihrer nachlassenden Professionalität im Cellospiel nimmt sie Nachhilfeunterricht.

 

Man spürt beim Lesen die psychoanalytisch Geschulte genauso wie die echte Musikkennerin. Sehr subtil werden in der Romanabfolge - nicht aufdringlich, sondern wie selbstverständlich – die Hinter- und Abgründe der Personen entschlüsselt und sehr kenntnisreich wird nicht nur die gespielte Musik interpretiert, sondern insbesondere das wiedergegeben, was beim Instrumentenspiel beim Hervorbringen der Töne geschieht, welche Prozesse der Abstimmung mit den anderen Spielern nötig sind, welche Wechsel von Anspannung und Entspannung den Rhythmus von Einsatz und Ruhen der Instrumente ausmacht.

 

Gewissermaßen zum Kontrapunkt des Quartetts wird der alt gewordene Cellist Reinier, der Nachhilfelehrer von Carolien, der mühsam den Eindruck vor sich und der Welt erwecken will, er käme allein mit dem Weiterleben in seinem Haus zurecht, das zunehmend verdreckt. Jede Bewegung schmerzt und das Cellospiel bringt ihm so Beglückung wie auch schmerzvolle Beschwerdnis. Hier gelingt Anna Enquist die für uns eindrücklichste Personendarstellung, die in allem stimmig ist. Eigentlich bilden die im Roman des Quartetts eingestreuten Abschnitte um Reinier eine eigene Geschichte, die vom Altwerden handelt, der Paranoia, die die eigene körperliche Hinfälligkeit produziert, die auch vor den liebevollen Hilfestellungen des Nachbarjungen nicht Halt macht, der einfach ein gut erzogenes und sensibles Kind ist und am Ende Reinier retten wird, was das Quartett miteinschließt.

 

Fortsetzung folgt.

 

Info:

 

Anna Enquist, Streichquartett, Luchterhand Verlag 2015