Philip Mirowski »Untote leben länger« bei Matthes & Seitz

 

Werner Thala

 

Berlin (Weltexpresso) – Gerade flattert uns eine Email auf den Tisch, die überschrieben ist mit »Die naheliegende Annahme, wir könnten aus den Fehlern der Ära des neoliberalen Irrwitzes lernen, war nur einer weiteren tückischen Sinnestäuschung geschuldet.« Philip Mirowski. Na schön, aber dann lesen wir den Absender, der da lautet Matthes & Seitz.

 

Matthes & Seitz, ja das ist doch der Verlag, mit dem wir immer wieder mal zu tun hatten, der aber dann durch den Deutschen Buchpreis für Frank Witzel mit seinem tiefgründigen, hintersinnigen, witzigen DIE ERFINDUNG DER ROTEN ARMEE FRAKTION DURCH EINEN MANISCH-DEPRESSIVEN TEENAGER IM SOMMER 1969 Furore machte. Auch im Weltexpresso, denn wir fanden nicht nur den Titel witzig, sondern das Buch äußerst gelungen, verbunden mit einem Sonderlob, daß sich der Verlag das getraut hat, nein,nicht wegen des Titels, aber der tausend Seiten wegen und überhaupt.

 

Da schaut man sich auch so eine Email gleich genauer an. Und was soll ich sagen? Es überkam uns die Lust, mal den Verlag im Internet zu suchen und da lernten wir gleich, daß mit ROSENSTENGEL. Die unglaubliche, aber wahre Geschichte der Catharina Linck, einem Debutroman die Autorin Angela Steidele vorliegt, der den Bayerischen Buchpreis erhielt. Typisch die Bayern. Einen eigenen Buchpreis. Aber auch dieser erschienen bei Matthes & Seitz! Da guckt man dann noch ein drittes Mal hin – in und auf die Mail. Mindestens. Und weil wir auch das laufende Programm, das wir dann durchlasen, so gut finden, entschlossen wir uns, diesen Philip Mirowski und seinem Buch die vom Verlag vorbereitete Chance zu geben. Hier ist sie.

 

Seit fast einem Jahrzehnt herrscht Krise auf den internationalen Finanzmärkten. Die Hypothekenkrise im Jahr 2008 löste eine unheilvolle Kettenreaktion aus; heute ist in der Folge das Projekt Europa existenziell gefährdet. Gelernt haben aus den Krisen nur die Falschen, diagnostiziert der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski in seinem Buch »Untote leben länger«. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Neoliberalismus auch heute die ökonomischen Entscheidungen lenkt und Markt und Politik seinen Stempel aufdrückt. Leben Untote länger?

 

Um dem Rätsel des unhinterfragbaren neoliberalen Mantras in den Wirtschaftswissenschaften, der Finanzwelt und der Politik auf die Spur zu kommen, hat sich Philip Mirowski für »Untote leben länger« auf Erkundungstour begeben. Er beleuchtet systematisch die Theorien, Organisationsformen und einflussreichen Netzwerke einer Sphäre, deren Drahtzieher für viele unsichtbar bleiben. Die Recherche wird zum Detektivtrip, denn schnell tritt die Merkwürdigkeit zutage, dass der Neoliberalismus zwar allgemein durchgesetzt zu sein scheint, dass sich aber niemand selbst als Neoliberaler etikettieren will.

 

Um Licht ins Dunkel zu bringen, rekonstruiert Mirowski in einem fulminanten Stück Intellectual History den Siegeszug des »Neoliberalen Denkkolletivs«, das in der von Friedrich Hayek und Milton Friedman vorangetriebenen Gründung der Mont Pèlerin Society 1947 in der Schweiz seinen Ursprung nahm. Mirowski analysiert Konzepte und Arbeitspapiere, verfolgt die strategische Gründung von Think-Tanks und zeigt, wie gesellschaftliche und politische Meinungsführer systematisch angesprochen, beeinflusst und kooptiert wurden. Am Ende dieser Praxis steht nicht nur die heutige ideologische Hegemonie, sondern auch jene fatale »Drehtür«, mittels der das neoliberale Führungspersonal zwischen den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Elite-Unis, der Wallstreet und der US-Regierung zirkuliert.

 

Philip Mirowski legt schlüssig dar, dass sich jeder, der sich heute einen kritischen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen bewahren will, mit der Wirtschaft und ihren Wissenschaften beschäftigen muss. Zumal die Unsichtbarkeit des allgegenwärtigen Systems noch weitere Rätsel aufgibt. Bei genauerer Analyse des Neoliberalismus wird nicht nur offenbar, wie wandelbar diese eigentlich so fest gefügte Lehre auftritt, Mirowski enthüllt auch, wie es den Neoliberalen gelingt, ihr Handeln mithilfe einer Strategie der »doppelten Wahrheit« zu rechtfertigen, die gerade ihre linken Kritiker aufs Glatteis führt: Das Dogma des freien Spiels der Marktkräfte und das tatsächliche Handeln zum Machterhalt stehen im krassen Gegensatz zueinander.

 

Die linke Gewissheit, dass der Neoliberalismus mehr Markt und weniger Staat fordert, muss nach Mirowskis Erkenntnissen revidiert werden. Auch gelingt es den Neoliberalen, ihre Ideologie in ursprünglich linke oder alternative Politikfelder einzuführen, seien dies Ökologie (Emissionshandel), Entwicklungspolitik (Mikrokredite), Sozialpolitik (Bildungsgutscheine) oder politische Bewegungen »von unten« (Tea Party).

 

So führt uns Mirowskis detektivische Erkundung geradewegs in unser eigenes alltägliches Leben. Die aktuelle Geschichte des Neoliberalismus ist die Geschichte der Kolonialisierung all unserer Lebenssphären durch das absolutierte Menschenbild des Homo oeconomicus, das jedem die komplette Verantwortung für sein Schicksal unterschiebt. Nicht nur, dass die Wirtschaft es versteht, die Menschen beim arglosen Internetsurfen oder auch beim moralisch bewussten Konsum für sich arbeiten zu lassen, es hat sich als kulturelles Begleitrauschen auch ein »Theater der unverfrorenen Grausamkeit etabliert, in dem wir das missglückte Leben anderer begaffen wie einen Crash beim Autorennen … Unscheinbare Leute, die verzweifelt etwas Anerkennung suchen und sich nach einer Flucht aus der faden Normalität sehnen, opfern sich vor einem Millionenpublikum auf dem Altar restloser Entwürdigung, wo ihnen schmierige Prominente die Leviten lesen … In Spielshows wurden die Armen belohnt; im heutigen Reality TV werden sie zertrampelt.«

 

Mirowskis grandioser Durchgang durch Geschichte und Wirkungsbereiche des Neoliberalismus erklärt nicht nur den Erfolg vordergründig grotesker Figuren und Bewegungen wie Donald Trump und der Tea Party, er erklärt auch den siegreichen Umgang der Neoliberalen mit einer Krise, die ihre Legitimität eigentlich bis ins Mark erschüttern müsste. Nicht zuletzt liefert »Untote leben länger« eine streitbare Untermauerung der Sentenz »Wissen ist Macht«. Eine wichtige Lektüre, um sich klar zu werden, welche Ideologie Macht über unser Leben hat.

 

»spannend wie ein Krimi« Caspar Dohmen, Deutschlandfunk

 

Info:

Philip Mirowski:

Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist

352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz

ISBN: 978-3-95757-087-1

Preis: 29,90 € / 36,80 CHF