Über „Vonne Endlichkait“ von Günter Grass aus dem Steidl Verlag

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Zuge der Auseinandersetzungen um seinen Roman „Ein weites Feld“ betonte Günter Grass seine Prägung durch den Katholizismus: Bereits in früher Jugend vom Glauben abgefallen und infolge der Auseinandersetzungen um den Paragraphen 218 aus der Kirche ausgetreten, sei ihm doch eine „barock-katholische Lebensart“ geblieben, „die immer, besonders in glücklichen Momenten, etwa beim Heben des Glases voller Rotwein, ein Stück Tod mittrinkt.

 

Der Tod ist immer da. Er ist fürchterlich, aber nicht zum Fürchten. Der Tod als große Ungerechtigkeit, wie er etwa bei Elias Canetti erscheint, wäre für mich kein Thema.“ (Gespräch mit der FAZ vom 7. 10. 1995)

 

Angesichts einer solchen Stellungnahme läßt sich das Gesamtwerk von Günter Grass als einziges „Memento mori!“ verstehen. Hinter der stets mit Vehemenz vorgetragenen, bisweilen allzu lautstark ausgefallenen und vielfach verfehlten Polemik des Sozialkritikers Grass schwang immer eine im Grunde christlich fundierte Mahnung mit, die Vergänglichkeit alles Irdischen und die eigene Sterblichkeit zu bedenken.

 

Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen“ (Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden. Herausgegeben von Volker Neuhaus. Band VII. Die Rättin. Herausgegeben von Angelika Hille-Sandvoss. Darmstadt und Neuwied 1987, S. 103) – so hebt eines der bekanntesten und schönsten Gedichte von Günter Grass an und leitet das vierte Kapitel der „Rättin“ ein. „Vonne Endlichkait“, das Buch, an dessen Fertigstellung er noch bis zu seinem Tode arbeitete, ist ein Reigen vorwiegend kürzerer Gedichte und Prosastücke – allesamt, wenn man so will, „Träume vom Abschiednehmen“. Ein lyrisches oder erzählerisches Ich, das die Ähnlichkeit mit dem Autor Günter Grass nicht zu verleugnen bestrebt ist, hält inne – und Rückschau. Melancholisch gestimmt geben sich die Texte – und Zeichnungen! – des Bandes.

 

Anläßlich eines Besuches mit den Enkelkindern auf einem Weihnachtsmarkt findet sich folgende Reflexion über Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“:

Seitdem ist gewiß, daß sie, die unzulänglich als Schwermut und – krankgeschrieben – als Depression behandelt wird, zu mir gehört. Sie ist den Menschen, vermutlich auch anderen Tieren anhänglich. Der ihr nachgesagte Trübsinn verdunkelt zwar, macht aber auch einsichtig, erhellt Abgründe. Ohne sie gäbe es keine Kunst. Sie ist der Moorboden, auf dem ich Halt suche. Dem Humor dient sie als Untermalung. Der Liebe, die nur sich sieht, zeigt sie das Stundenglas. Ihr zum Gefallen wurde die Uhr erfunden. Denn überall wo sich großspurig Fortschritt behauptet, selbst angesichts restlicher Natur – oder wie heute, inmitten des Weihnachtsmarktes – ist sie zur Stelle, nimmt uns die Wehmut auf unbestimmte Zeit in Besitz.“

(Günter Grass: Vonne Endlichkait. Göttingen 2015. „Des Nachgeschmackes Beigabe“, S. 64)

 

Diese Passage offenbart noch einmal die literarische Verfahrensweise des Autors Grass – eine absolute Hinwendung zu den in den einzelnen Worten angelegten Möglichkeiten der deutschen Sprache, sei es auf rein klanglicher Ebene („Moorboden“ / „Humor“), sei es bezüglich der Ambivalenzen auf der Bedeutungsebene („etwas behaupten“ / „sich behaupten“), die der Entfaltung seiner keineswegs spielerisch gedachten Assoziationsketten als Grundlage dienten.

 

Das Ich besingt seinen langsam fortschreitenden körperlichen Verfall – den Verlust der letzten Zähne, das (zeitweilige) Schwinden des Geruchs- und Geschmackssinns, Zustände der Schwäche und Müdigkeit, aber auch die letzte Hoffnung auf ein weiteres Frühjahr.

 

Lektüreeindrücke werden beschworen – Shakespeare, Sartre, Camus; vor allem jedoch Jean Paul. An lange zurückliegende Gespräche mit Paul Celan wird erinnert, dessen „schwarze Milch als geliehene Metapher in verschraubbaren Gläsern“ (Günter Grass: Vonne Endlichkait. „Sepia Nature“, S. 11) lagert und der ihm in Paris die Übersetzung der Geschichten von „Gargantua und Pantagruel“ von François Rabelais in der Übersetzung von Gottlob Regis zu lesen empfahl.

 

Imaginiert wird ein nächtliches Gespräch mit dem verstorbenen Mythenforscher Claude Levi-Strauss, dessen Büchern Grass einige Anregungen für den „Butt“ verdankte. Auch anderen Grass´schen Metapherntieren begegnen wir hier – dem Windhuhn, der Schnecke…

 

Im Zusammenhang mit dem „Butt“ betonten einst Claudia Mayer und Volker Neuhaus die „politische Relevanz des Essens bei Grass“ (Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden. Herausgegeben von Volker Neuhaus. Band V. Der Butt. Herausgegeben von Claudia Mayer. Darmstadt und Neuwied 1987. Nachwort der Herausgeber, S. 656). Das Kochen ist in seinen Büchern „ein wichtiges und immer wiederkehrendes Motiv.“ (Ebenda) Im „Butt“, aber auch in anderen Werken, „ist das Essen neben dem sinnlichen Genuß eine Gegenmacht in einer chaotischen Welt. Inmitten von Leiden und Sterben findet in jedem Monat ein gemeinsames Essen statt, das Zerstrittene und Getrennte verbindet“ (Ebenda).

 

So finden sich auch hier zahlreiche Beschwörungen kulinarischer Genüsse; allerdings lässt sich die Kluft zwischen den Generationen bisweilen nicht mehr überbrücken. Des Vaters Schwärmen für Hausmannskost und Innereien macht ihn für seine zahlreiche Nachkommenschaft zum Kinderschreck: „Was einst den Gaumen belebte, leidet unter Verbot. Kein geschlachtetes Vieh darf erkennbar, der Saukopf nur als Sülze gelieren. Was vormals grunzte, muhte, gackerte, wieherte, wird verwurstet.“ (Günter Grass: Vonne Endlichkait. „Innereien“, S. 40)

 

Auch Politisches klingt an: Die Eurokrise, der Syrienkonflikt, die Annexion der Krim – und „Mutti“:

Was stören könnte, wird beredt beschwiegen;

sie jedenfalls sagt wortreich nichts.

Wer ihr zu nah kommt, der wird weggebissen

und ist alsdann der Medien Frühstücksfraß.“ (Günter Grass: Vonne Endlichkait. „Mutti“, S. 101)

Wie er, der Linkshänder, „unbelehrbar weit links von allem und mir“ (Günter Grass: Vonne Endlichkait. „Unbelehrbar“, S. 130) stehend, wohl Angela Merkels Wandel zur „Flüchtlingskanzlerin“ kommentiert hätte?

 

Das letzte Gedicht, das zugleich dem Buch seinen Titel verlieh, ist in kaschubischer Mundart verfaßt:

 

VONNE ENDLICHKAIT

 

Nu war schon jewäsen.

Nu hat sech jenuch jehabt.

Nu ist futsch un vorbai.

Nu riehrt sech nuscht nech.

Nu mecht kain Ärger mähr

un baldich besser

un nuscht nech ibrich

un ieberall Endlichkait sain.

(Günter Grass: Vonne Endlichkait. „Vonne Endlichkait“, S. 173)

 

Der Mythos des beabsichtigten Weltabschiedswerks läßt sich nur schwer mit dem Namen Günter Grass in Verbindung bringen. Nach „Vonne Endlichkait“ – banale Feststellung! – hätte es durchaus weitergehen können, wenn er am Leben geblieben wäre. So aber bilden die Texte und Zeichnungen dieses Buchs, worin noch einmal nahezu sämtliche Motivkreise und Metaphernfelder des Grass´schen Gesamtwerks anklingen, nun den gleichermaßen verhaltenen Ausklang, wie auch den eindrucksvollen Schlußakkord seines Lebenswerks.

 

Günter Grass: Vonne Endlichkait

Steidl Verlag, Göttingen 2015

184 Seiten, EUR 28.00 (DE)

ISBN: 978-3-95829-042-6

EAN: 9783958290426

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien erstmals in der Dezemberausgabe 2015 der „Wiener Sprachblätter“. Für die Neuveröffentlichung wurde er geringfügig bearbeitet.