Ulrich Weinzierl beleuchtet das Sexualleben Stefan Zweigs
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Vorstellung, der typische Leser eines bestimmten Autors erwarte in dessen Texten ganz bestimmte Sätze, durch die er sich bestätigt sähe und die den Hauptgrund für seine Bewunderung darstellten, gehört eher in den Bereich der Satire.
Gleichwohl kommt keine satirische Überspitzung ohne handfeste Verhaftetheit in realen Gegebenheiten aus. Wenn wir uns also vorstellten, es gäbe den typischen Weinzierl-Leser, für den dessen „Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild“ eine Art Hausbibel darstellte, so dürfte dieser Lesertypus auf Seite 84 von Weinzierls jüngstem Streich, „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“, jenem Satz begegnen, der ihn innerlich ausrufen läßt: „Chewie, wir sind zuhause!“.
Welche Weisheiten werden uns dort kundgetan? „Unter Stefan Zweigs Freunden befanden sich übrigens erheblich mehr Homosexuelle, als Prater und Kesten sich je hätten träumen lassen.“
Das ist die geistige Höhe, die man aus seinem Hofmannsthalbuch kennt und deren Wiederaufgreifen Ulrich Weinzierls Bewunderer gewiß ebenso entgegenfieberten wie „Star Wars“-Fans dem „Erwachen der Macht“!
Worum geht es nun in diesem Buch? Mit der von ihm gewohnten Degoutance läßt Weinzierl verschiedene Protagonisten, vorrangig aus der Entourage der Wiener Moderne, aber nicht nur aus dieser, defilieren, um sie und ihre unterschiedlichen sexuellen Neigungen der Lächerlichkeit preiszugeben. Es werden zahlreiche homo- , hetero- und bisexuelle Affären ausgebreitet – Geschichten von Eifersucht, Leidenschaft, Leidenschaften, welche mit Eifer danach suchen, was Leiden schafft (das Bonmot stammt von Tucholsky), Niedergeschlagenheit und Selbstherrlichkeit: Eine Sketchparade der Eitelkeiten!
Im Mittelpunkt des ganzen Treibens steht dieses Mal Stefan Zweig. Bereits 1992 hatte Weinzierl ein Buch über ihn veröffentlicht – „Triumph und Tragik des Stefan Zweig“, eine umfangreiche Sammlung überwiegend negativer, ja geradezu abfälliger Äußerungen der Mit- und Nachwelt über den Erfolgsautor, die durchaus dazu angetan ist, auch diejenigen, die sich nicht zu den Freunden und Bewunderern des Verfassers der „Schachnovelle“ und der „Welt von Gestern“ zählen, auf gewisse Weise für ihn einzunehmen: Den aufopferungsvollen Freund und Förderer, dem kaum einer dankte und den anscheinend alle verachteten. Zweig vergnügte sich mit mehreren Frauen, war aber auch auf gleichgeschlechtlichem Gebiet tätig – allerdings nicht in einem Ausmaß, das es gerechtfertigt erscheinen ließe, ihn der „Gilde“ (von einer solchen sprach Zweig 1926 im Briefwechsel mit Anton Kippenberg anläßlich seiner „Verwirrung der Gefühle“) der Homosexuellen zurechnen zu dürfen.
Nach detaillierter Ausbreitung verschiedenster diesbezüglicher Verwicklungen befriedigt Weinzierl im letzten Drittel seines Buches die „Ungeduld des Herzens“ seiner Leser und enthüllt seines Helden „brennendes Geheimnis“: Zweig war laut Weinzierls akribischen Recherchen Exhibitionist – in den Worten Andreas Isenschmids in der ZEIT vom 15. 10. 2015 „auch in den aktuellen, gendermäßig so entdeckungsfreudigen Verhältnissen eine der letzten tabuumlagerten Peinlichkeiten“!
Die „Beweisführung“ ist dabei durchaus verschlungen: Andeutungen in diese Richtung lagen schon lange vor, beispielsweise eine briefliche Bemerkung Thomas Manns aus dem Jahre 1954, aber von Seiten der Zweig-Biographik hielt man sich gleichwohl mit entsprechenden Mutmaßungen zurück oder suchte sie zu entkräften.
Als einziger Kronzeuge für Zweigs Exhibitionismus taugte höchstens sein Jugendfreund Benno Geiger – ein zwielichtiger, aber nicht unsachverständiger Kunstsammler und –händler, der in dieser seiner Funktion sogar Hofmannsthal ein paar lobende Bemerkungen in Form eines Vorworts zu entlocken vermochte, was Weinzierl wiederum mit der ihm eigenen Süffisanz dergestalt charakterisiert, „Hofmannsthal zog dunkel raunend alle Register seiner Rhetorik“ und mit einem nicht minder aussagekräftigen „Nun denn“ quittiert; ein Möchtegern-Dichter, politischer Opportunist und keineswegs bloß verkappter Antisemit, der sich so manche Freundschaft zu erschleichen verstand.
Dessen Erinnerungsbuch sei aber vor allem von Rachsucht und Sensationslust getragen, weshalb es bei der Untermauerung der Exhibitionismus-Hypothese letztlich als wenig hilfreich sich erwiese. Weinzierl stützt sich da lieber auf eigene „Entdeckungen“, genauer gesagt auf die (vermeintlich) erstmals genaue Lektüre der erhalten gebliebenen und veröffentlichten Tagebücher Stefan Zweigs. Dieser notierte bereits am 10. September 1912: „Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt.“
Das Kürzel „schaup.“ deutet Weinzierl zufolge auf den Begriff „Schauprangertum“, eine angebliche Eigenprägung Zweigs, womit das Faktum des Exhibitionismus gleichermaßen benannt wie verschleiert werde. Basierend auf dieser Lesart, deutet Weinzierl noch einige andere Tagebucheintragungen nach diesem Muster.
Interessanterweise widerspricht Friedmar Apel in der FAZ vom 25. 9. 2015 dieser Interpretation der Abkürzung vehement und liefert eine völlig anders geartete etymologische Herleitung derselben, scheint aber gleichwohl Weinzierls Vermutung insgesamt beizupflichten, wenn er im Schlußabsatz seiner Besprechung meint, dem Interesse am Werk Zweigs werde diese Enthüllung ebenso wenig schaden wie der Nachweis der Päderastie bei Stefan George.
Weinzierl versteht es gewiß, eine Fülle von Dokumenten in durchaus gekonnt-boulevardesker Manier vor dem Leser auszubreiten, und offenbar gibt es genügend Leute, die das zu goutieren bereit sind, aber streng genommen nimmt sich das alles doch recht mager für ein ganzes Buch aus – unabhängig davon, ob man Weinzierls Schlußfolgerungen als nachvollziehbar erachtet, oder nicht.
Ein kurzer Aufsatz hätte genügt – hierin hätte Weinzierl konzentriert das Für und Wider der Annahme eines Zweigschen Exhibitionismus darlegen können; immerhin ist die Vorstellung, das bloße Gerücht, Stefan Zweig sei Exhibitionist, habe eine „bis zu körperlichem Widerwillen reichende Abneigung“ bei Hofmannsthal und anderen hervorgerufen, nicht von der Hand zu weisen.
Man muß Weinzierl zugute halten, daß er sich intensiv mit den psychoanalytischen wie auch den strafrechtlichen Aspekten des Exhibitionismus auseinandergesetzt hat und bei der Darlegung von Fällen sexuellen Mißbrauchs, etwa durch anerkannte, berühmte Künstler und Dichter wie Adolf Loos oder Peter Altenberg, sich des für ihn sonst charakteristischen Tonfalls blasiert-despektierlicher Herablassung entschlägt und die notwendigen Worte äußert, auf die man vielfach schon lange vergeblich hoffte. Das alles ist eben alles andere als „nur lächerlich“, wie noch Rousseau die eigenen exhibitionistischen Aktivitäten zu relativieren suchte.
Ferner darf als der überraschendste und mit erfreulichste Aspekt dieses Buchs die Tatsache gewertet werden, daß Weinzierl hier nie das Werk Stefan Zweigs aus dem Auge verliert – nicht als trivialen Beleg biographischer Fakten, wohl aber als autonomes ästhetisches Gebilde, worin sich durchaus auch Biographisches spiegeln oder künstlerisch gestaltet sein möge.
Die Person Stefan Zweigs, so Weinzierl laut Jan Küveler in der „Welt“ vom 18. 9. 2015, sei ihm nun sympathischer als vor Beginn der Arbeit an diesem Buch – er verstünde ihn nun besser und empfände Mitleid für ihn in seiner „Ich-Schwäche“. Ähnliches äußerte auch Thomas Karlauf nach Abschluß seiner George-Biographie.
Mit Hofmannsthal als Person und dessen Werk scheint Weinzierl auch weiterhin seine Probleme zu haben, aber das Werk Stefan Zweigs scheint ihm schon längere Zeit einiges zu bedeuten.
Auf Seite 202 erfahren wir folgendes:
„Die französische Zweig-Forschung, auch von Seiten der akademischen Germanistik, ist erstaunlicherweise avancierter als die deutschsprachige. Zweig wird als Schriftsteller dort viel ernster genommen. In Frankreich gehört das Werk dieses „mythischen Autors“ zum Kanon der Weltliteratur, versinnbildlicht durch die vorzügliche Ausgabe in der „Bibliothèque de la Pléiade“. Das bedeutet den Aufstieg zu den Sternen.“
Eine Studie wie die von Catherine Delattre über Psychopathologie und ästhetisierte Perversionen im Werk Stefan Zweigs wäre, bei allen Einschränkungen, in Deutschland oder Österreich noch nicht vorstellbar.
Leider scheint Ulrich Weinzierl wenig Bereitschaft zu zeigen, diesem Sachverhalt selbst Abhilfe zu schaffen. Nun denn.
Info:
Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015
224 Seiten, EUR 17.90 (DE), EUR 18.40 (AT), 25.90 (freier Preis)
ISBN: 978-3-552-05742-5
EAN: 9783552057425