Philip Mirowski zu der Frage: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist; bei Matthes & Seitz, Berlin, Teil 1/2

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) Erstaunlich, bemerkenswert, beunruhigend! Die Leserin reibt sich verwundert die Augen, nimmt sich vor, unbedingt diese oder jene Information aus diesem Buch herauszuschreiben und sich zu merken, und sie ist nach der Lektüre in Sorge und stellt sich die Frage: wie soll es bloß mit dieser Welt weitergehen?

 

Philip Mirowski, Wirtschaftshistoriker und Kulturkritiker, hat eine klare Vorstellung von dem Publikum, für das er schreibt: Er wendet sich an diejenigen, die davon überzeugt sind, dass eine »bessere Welt« möglich ist, die dabei davon ausgehen, dass Marktstrukturen dem Ziel eines allgemeinen menschlichen Fortschritts untergeordnet sein müssen. Eine solche »bessere Welt« werde allerdings durch den vorherrschenden Neoliberalismus verhindert. Mirowski zeigt in seiner materialreichen Veröffentlichung, dass bedingt durch die Wirkungsmacht des Neoliberalismus das internationale Finanzsystem vor sieben Jahren, nach der Insolvenz von Lehman Brothers am 15.9.2008, dicht vor dem Abgrund stand.

 

Kanzlerin Merkel sah sich am 5.10.2008 genötigt, im Fernsehen zu beteuern, alle Spareinlagen seien sicher. Die Verantwortung für die in ihrer Gefährlichkeit mit der Weltwirtschaftskrise (1929-1932) vergleichbaren Finanz-und Wirtschaftskrise von 2008 liegt für Mirowski unzweifelhaft bei der neoliberalen Ideologie. Nach dieser Krise, das ist Mirowskis Idee für den Titel des Buches, hätte der Neoliberalismus eigentlich erledigt, mausetot sein müssen. Stattdessen sei er »seltsamerweise stärker« als zu der Zeit, in der der Neoliberalismus der Krise den Weg bahnte. Statt den intellektuellen Tod zuzugeben, torkelten die neoliberalen »Untoten« weiter herum und trieben ihr Unwesen. Diese »Untoten leben länger«, als sich die Kritiker des Neoliberalismus zur Zeit der Krise hätten vorstellen können.

 

Warum?

 

Das ist die Fragestellung Mirowskis, auf die er eine Antwort sucht und in seiner Veröffentlichung in überzeugend nachvollziehbarer Weise findet. Der Autor geht auf drei Phasen der Entwicklung des Neoliberalismus ein.

 

Es begann mit neununddreißig Gründungstreffen der Mont – Pèlerin - Society (MPS) in zehn verschiedenen Ländern im Jahre 1947. Ab dem Jahre 1991 gab es insgesamt fünfhundert Mitglieder dieser Gesellschaft, die aus siebenunddreißig Ländern kamen. Die Mitgliedschaft im MPS ist auf fünfhundert Personen begrenzt. Der Neoliberalismus habe seit seinen Anfängen eine außerordentliche Wandlungsfähigkeit bewiesen und bis in die Jetztzeit ganz unterschiedliche Modelle hervorgebracht, die in verschiedenen Ländern umgesetzt wurden. Hauptgegner des Neoliberalismus seien klassischer Liberalismus, Sozialliberalismus und Sozialismus.

 

Um das Gedankengebäude des Neoliberalismus verständlich zu machen, konkretisiert Mirowski »dreizehn Gebote«, denen der Neoliberalismus verpflichtet sei.

In einem wird ein starker Staat gefordert, also das Gegenteil eines »Nachtwächterstaates«, den der klassische Liberalismus bevorzugt. Der Markt sei ein allem überlegenes großartiges Informationssystem. Der Staat habe sich der Logik des Marktes zu unterwerfen und müsse diese Logik in aller Konsequenz durchsetzen. Ein weiteres Gebot besagt, dass der Staat für die Legitimation neoliberaler Interventionen bei der Bevölkerung zu sorgen habe. Hierher gehört die für den Neoliberalismus und auch hierzulande berühmt berüchtigte Formel TINA (»There ist no alternative“). Ungleichheit werde im neoliberalen Gedankengebäude vorbehaltlos bejaht, denn diese sei stärkster »Fortschrittsmotor«. Die Ergebnisse von Ungleichheit werden selbstverständlich ebenfalls bejaht. »Reiche« seien mitnichten Parasiten, sondern ein Segen für die Menschheit. Alle anderen sollten die »Reichen« ruhig beneiden, wenn und solange sie ihnen nacheifern.

 

»Soziale Gerechtigkeit« müsse abgelehnt werden, denn sie stehe der »Weisheit des Marktes« im Wege. Das neoliberale System produziert Verlierer, die für die Befürworter überhaupt kein Problem darstellen. Schließlich könnten aus Verlierern Gewinner werden. Armut wird personalisiert und/oder kriminalisiert. Die erforderliche drastische Ausweitung des Gefängnissystems wird ohne mit der Wimper zu zucken bejaht. Armut und wachsende Kriminalität wirkten disziplinierend, kämen also letztlich dem neoliberalen System zugute.

 

Je effizienter und dynamischer der Markt sei, desto besser sei es. Trends zur Einkommens- und Vermögenskonzentration werden bejaht. Der Markt wird regelrecht vergöttert. Er halte für sämtliche Probleme, auch für die vom Neoliberalismus verursachten, Lösungen bereit. Es gebe ein Naturrecht auf grenzüberschreitenden Verkehr des Kapitals. Welthandelsorganisationen wie Weltbank und IWF hätten diesem Naturrecht Geltung zu verschaffen. Widerspenstige Staaten müssten von diesen Organisationen diszipliniert werden. Fortsetzung folgt.

 

Info:

 

Philip Mirowski, Untote leben länger, Berlin 2015, Matthes & Seitz

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