Philip Mirowski zu der Frage: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist; bei Matthes & Seitz, Berlin, Teil 2/2

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) Mirowski negiert diese angeblich »übernatürlichen Kräfte« des Marktes. Für ihn ist der Markt Produkt von interessegeleiteten Kämpfen. Die Finanzkrise im Jahre 2008 ist für ihn Ausdruck der »Pathologie« des neoliberalen Systems.

 

Neoliberale Ökonomen hätten vor, während und nach der Krise versagt und seien zudem unfähig, eventuelle neue Krisen zu prognostizieren. Schon gar nicht seien sie in der Lage, diese zu vermeiden.

 

Mirowski geht ausführlich auf die Widersprüchlichkeit des neoliberalen Systems ein, dessen Spiel mit »doppelten Wahrheiten«, wobei die Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus darin bestehe, dass dessen Vertreter von der Richtigkeit ihrer Ideologie völlig überzeugt seien. Umweltprobleme, Klimaerwärmung? Kein Problem für die Anhänger des Neoliberalismus. Der Markt, wer sonst, bekomme solche Probleme in den Griff. Ende des Karbonzeitalters? Kein Problem! Der Markt hält zahlreiche Alternativen bereit. Die Antwort auf jedes Problem lautet: Mehr Markt!

 

Vorteilhaft für das Weiterbestehen des neoliberalen Systems ist nach Mirowski ein neoliberales Selbst, dessen Einstellungen und Lebenspraktiken im Alltagsleben in erheblicher Weise beeinflusst werden. Um die gewünschte »Optimierung des Selbst« kümmere sich die Identitätsökonomie. Neoliberale glaubten nicht an ein invariantes Selbst. Sie befürworteten das flexible Selbst, das bereit und willens sei, jederzeit den Regisseur seines Lebens auszutauschen, demnach in andere Rollen zu schlüpfen. In das neoliberale Weltbild passt ein Mensch, der den Mut hat, Dinge zu ändern, die er ändern kann.

 

Das neoliberale Selbst sehe den eigenen Körper als eine Firma, die sogar die Revolutionierung des Selbst ermögliche. Geeignete Investitionen ermöglichten dem Selbst ungeahnte Erfolge: Schönheitsoperationen, Leihmutterschaft, Disigner - Kinder, Antidepressiva, leistungssteigernde Medikamente und so weiter. Warum denn nicht, predigen Neoliberale. Der Neoliberalismus bejaht die Umgestaltung des Selbst. Das gehört zu seinem Verständnis von Freiheit selbstverständlich dazu. Wenn der Wettbewerb in allen Lebensbereichen befürwortet wird, dann muss man sich, das ist die Logik des Neoliberalismus, auf den Wettbewerb der Optimierung des Selbst einlassen. Solidarität wird als ein Zeichen von Schwäche gesehen und abgelehnt.

 

 

Für Mirowski ist die TV-Sendung Big Brother ein »Abbild des Marktes«

 

»Unscheinbare Leute, die verzweifelt etwas Anerkennung suchen und sich nach einer Flucht aus der faden Normalität sehnen, opfern sich vor einem Millionenpublikum auf dem Altar restlose Entwürdigung, wo ihnen schmierige Prominente die Leviten lesen. Weil solche Sendungen weniger kosten als Nachrichten, Filme oder Serien, breiten sie sich weiter aus. Häufig soll das Publikum sogar darüber abstimmen, wer aus dem Rennen fliegt - ein unverkennbares Simulakrum des neoliberalen Marktes. In Spielshows wurden die Armen belohnt, im heutigen Reality TV werden sie zertrampelt.«

 

Wie in immer mehr Computerspielen geht es um die Erniedrigung der Verlierer. Neben ihrem eigenwilligen Verständnis von Freiheit ist für die Neoliberalen »Risiko« ein weit oben angesiedelter Wert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Big Brother Show zeigen diese Risikobereitschaft. Das Publikum sieht im »Theater der Grausamkeit« voller Schadenfreude zu, wenn die Risikobereitschaft schiefgeht. Mirowski bringt mehrere überzeugende Beispiele für diesen »alltäglichen Sadismus« öffentlicher Erniedrigung von denjenigen, die aus dem Rennen, dessen Spielregeln vom neoliberalen Markt vorgegeben werden, fliegen.

 

Auswege

 

Gibt es einen Ausweg aus dem neoliberalen Dilemma? In einem Interview, das Mirowski der FAZ am 12.2.2013 gegeben hat, bejaht er die Notwendigkeit einer Erzählung, die der neoliberalen Ideologie Konkurrenz machen könnte. Es gehe darum, meint Mirowski, dass wir uns selbst verstehen, verstehen, was Märkte sind und wie sie funktionieren und welche Rolle wir in ihnen spielen. Das wichtigste sei aber Verständigung darüber, wie ein »gutes Leben« aussehen könnte.

 

Martin Dornes, Soziologe, Entwicklungspsychologe und Gruppenanalytiker, warnt in seinem Beitrag »Kapitalismus und psychische Erkrankungen« in der Zeitschrift »Psyche« 11/2015 vor »Antikapitalismus und Demokratieverachtung«.

Martin Dornes schreibt: »Ich sehe gesellschaftlichen Reformbedarf an vielen Ecken und Enden. Ich bin aber der Überzeugung, dass ein rechtsstaatlich verfasster, auf das Prinzip der Gewaltenteilung und die Charta der Menschenrechte verpflichteter demokratischer Kapitalismus die beste Gewähr dafür bietet. Es gibt zwar undemokratischen Kapitalismus (zum Beispiel in China) oder demokratischen Kapitalismus mit erheblichen rechtsstaatlichen Mängeln (zum Beispiel in der Türkei). Aber es gibt auf der Welt keine einzige nicht-kapitalistische Demokratie.«

 

Reformbedarf besteht tatsächlich an allen möglichen Ecken und Enden. Vor allem geht es wohl darum, dass das neoliberale System nicht Schritt für Schritt Demokratie auf ein formales Verfahren reduziert. Es geht weiterhin darum, dass die Frage nach dem »guten Leben«, einem Leben in »Würde«, wie es das Grundgesetz verspricht, nicht allein von der Logik und den Gesetzmäßigkeiten des neoliberalen Marktes beantwortet wird.

 

Info:

 

Philip Mirowski, Untote leben länger, Berlin 2015, Matthes & Seitz

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