Zum 150. Todestag von Friedrich Rückert (1788 – 1866)
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Er ist der Welt noch lange nicht abhanden gekommen: 150 Jahre nach seinem Ableben präsentiert sich Friedrich Rückert, lange Zeit als leerer Formvirtuose und reimender Einfaltspinsel abgetan, so quicklebendig wie selten zuvor!
Nimmt man die Spur auf, die Friedrich Rückert in den Literaturgeschichten hinterlassen hat, stößt man rasch auf immer dieselbe Ansammlung von Schlagwörtern: „Biedermeier“, „Bildungsbürgertum“, „Erbauungsliteratur“, „Formgewandheit“, „Weltferne“, „Blutleere“, „Epigonalität“ …
Rückert war zu Lebzeiten mit seiner gigantischen literarischen Produktion so erfolgreich, wie es nur wenigen Dichtern vergönnt ist. Seine Gedichte und seine Nachdichtungen aus fremden Sprachen (er soll deren 44 mehr oder minder fließend beherrscht haben!), insbesondere aus dem orientalischen Kulturkreis, brachten ihm frühen und anhaltenden Ruhm ein – wenig bekümmerlich schien es dabei, daß sein dramatisches Schaffen kaum Anklang fand.
Für den jungen Friedrich Engels stand 1839 fest: „Es ist merkwürdig, daß, wenn wir unsere größten Dichter zusammennehmen, immer zwei und zwei sich ergänzen, so Klopstock und Lessing, so Goethe und Schiller, so Tieck und Uhland. Jetzt aber steht Rückert ganz allein da…“ Soweit Friedrich Engels an Friedrich Graeber am 20. 1. 1839; zitiert nach „Kindlers Neues Literatur-Lexikon“ von 1988.
Im selbigen lesen wir unmittelbar darauf: „Geblieben ist von diesem Ruhm und dem damit verbundenen umfangreichen lyrischen Werk (…) nur wenig.“
Bereits zu Lebzeiten ward hin und wieder vernommen, der „Alte von Neuses“, wie man Rückert nach seinem geliebten Landgut bei Coburg nannte, sei letztlich nur eine oberflächliche Natur – vielseitig interessiert und vielseitig begabt, aber gewiß kein Großer: Sicher ein beachtliches Talent oder gar Multitalent – keineswegs aber ein Genie.
Wiewohl es immer wieder prominente Fürsprecher gab, die auf seine Bedeutung hinwiesen – Hans Christian Andersen, Rudolf Borchardt, Oskar Loerke – , dürfte er gut 120 Jahre lang nach seinem Tod fast ausschließlich als typischer Schulbuchautor des Wilhelminischen Lesebuchs bis in die Jahre der Weimarer Republik (dem jungen Marcel Reich-Ranicki machte er offensichtlich wenig Freude!) hinein gegolten haben: Altmodisch, besinnlich, Poesie fürs Poesiealbum eben.
Man gefiel sich diesbezüglich in nur geringfügig variierenden Wortspielen – Rückert habe Goethes Ausspruch, jede echte lyrische Poesie sei immer auch Gelegenheitsdichtung, dahingehend zu befolgen versucht, daß er aus jeder und bei jeder Gelegenheit ein Gedicht oder eher gleich deren mehrere machte, und seine in der Tat außergewöhnlich hohe Kunstfertigkeit habe ihn mehrere durchaus staunenswerte Kunststücke vollbringen, seltener indes Kunst schaffen lassen.
Auch daß viele der bedeutendsten Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts Rückert vertonten, so Schubert, Schumann, Brahms, Mahler und Richard Strauß, taugte vorwiegend zur Bestätigung des Vorurteils, daß große Lyrik, große Dichtung überhaupt, im Grunde nicht vertonbar und der Musiker letztlich immer auf literarisch schwächere Texte angewiesen sei, um das in Tönen auszusagen, was dem Dichter mit Worten zu sagen versagt gewesen sei.
Immerhin setzte sich eine Interpretationslinie durch, wonach diejenigen seiner Gedichte, die Gustav Mahler in Musik setzte, auch seine bedeutendsten wären. Der Gedankenlyriker Rückert war vermutlich den einen zu wenig gemütvoll, den anderen hingegen nicht intellektuell genug, und mit „seelischen Abgründen“ wie etwa Lenau oder Platen konnte er kaum aufwarten – aber die „Kindertotenlieder“ und die „Fünf Rückertlieder“ waren dann womöglich doch gleichermaßen „echt empfunden“ wie „artistisch ausgeformt und gestaltet“? Wie gesagt: Immerhin!
Aber die Literaturgeschichte neigt bisweilen zum Mäandrieren! Während des vergangenen Vierteljahrhunderts hat sich doch einiges geändert: Eine umfangreiche Rückertforschung hat sich etabliert (insbesondere sei auf das Jahrbuch der Friedrich-Rückert-Gesellschaft, das später unter dem Titel „Rückert-Studien“ fortgeführt wurde, des Würzburger Ergon Verlags verwiesen), eine historisch-kritische Werkausgabe nahm bei Wallstein ihre Fahrt auf, und immer wieder gab und gibt es Neuausgaben einzelner Werke. Auch zeugen zwei nach Rückert benannte Literaturpreise von dem gleichermaßen germanistisch wie orientalistisch motivierten Interesse, das seinem Werk immer noch oder besser gesagt erneut und heutzutage in besonderem Maße zuteil wird – der 1963 begründete und 1965 erstmals vergebene Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt und der seit 2008 von der Stadt Coburg verliehene Coburger Rückert-Preis, welche beide Rückerts Bedeutung als Integrationsfigur, als Mittler und Aussöhner zwischen Orient und Okzident, Rechnung zu tragen suchen.
Läßt sich das erklären? Sicher hängt es zu einem großen Teil mit dem Engagement Hans Wollschlägers zusammen, der insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens die treibende Kraft hinter vielen Rückert betreffenden Projekten war, insbesondere der Werkausgabe bei Wallstein. Aber die Liebhaberei einiger weniger Schriftsteller und Literaturwissenschaftler allein dürfte noch keine Renaissance einzuläuten vermögen.
Gibt es gesellschaftliche, politische Gründe? Kann man mithilfe solcher literaturgeschichtliche Entwicklungen überhaupt zumindest halbwegs schlüssig „begründen“? Mit Sicherheit läßt sich jedoch sagen, daß es offenkundig genügend mündige Leser gibt, die den tradierten Etikettierungen mißtrauten und lieber selber die Probe aufs Exempel wagten, sich diesen allzu oft und allzu leichtfertig geringschätzig behandelten Dichter, dem man nur hin und wieder ein paar gelungenere Gedichte durchgehen zu lassen beliebte, näher anzusehen. Mehr bedarf es anscheinend nicht – und mehr sollte es auch nicht bedürfen.
Überlassen wir nun aber lieber dem Dichter selbst das Wort!
In seiner „Weisheit des Brahmanen“ (1836 – 1839) formulierte er ein Credo, das sich durchaus als seine persönliche Replik auf Goethes „Stirb und werde!“ lesen läßt:
„Mit Unvollkommenheit zu ringen ist das Los
Des Menschen, ist sein Wert und nicht sein Mangel bloß.
Was unvollkommen ist, das soll vollkommen werden;
Denn nur zum Werden, nicht zum Sein, sind wir auf Erden.“
In seinen bevorzugt als Dokumente biedermeierlicher Besinnlichkeit belächelten „Haus- und Jahresliedern“ (1838) lesen wir unter dem Titel „Auf nichts zu rechnen“ die Empfehlung:
„Rechne niemals auf ein Glück!
Oft ja bleibt im Garten
Das Erwartete zurück
Hinter dem Erwarten.
Wenn darauf du rechnest nicht,
Wirds von freien Stücken
Kommen, und wie Sonnenlicht
Doppelt dich beglücken.“
Das ist weniger resignativ als vielmehr – realistisch!
Schließlich sei an jenes „Der Fußwanderer“ betitelte Gedicht aus seinen römischen Jahren (1817/1818) erinnert, welches Arno Schmidt auf Seite 55 von „Zettels Traum“ zitiert, ohne den Namen des Dichters zu nennen, und welches Rolf Vollmann, der jahrelang nach dem Verfasser gefahndet hatte, in seinem insgesamt durchaus despektierlichen Artikel „Wen stört denn ein Verrückter?“ (Die ZEIT vom 15. 8. 2002) als „die schwebend ironische Ode eines Wanderers, in einem Ton, den niemals in der deutschen Literatur irgendeiner angeschlagen“ habe, pries – der bis dato unerhörte Ton sei indes nur darauf zurückzuführen, daß Rückert, einer Figur von Borges vergleichbar, sinngemäß quasi wie eine Maschine oder besser wie ein Computer gedichtet und alle möglichen Töne ausprobiert und eben hier und da auch einmal ins Schwarze getroffen habe; solch unerhörten Ton könne „nur einer finden, der gleichsam nichtssuchend durch die Unendlichkeit der möglichen Töne streift und ihn dann hat; ein Verrückter.“
Dem positiven Teil der Wertung schließen wir uns an – zum negativen Teil haben wir oben bereits alles Nötige gesagt:
„Wenn auch mich ein Gott,
Und sei's auch nur
Von den kleineren einer,
Bis hieher
Auf meiner Lebensreise
Geleitet hat;
So hör' er gnädig
Jetzt mein Gebet!
Des Fußreisenden
Stillhinwandelnden
Anspruchloseres
Frommes Gebet.
Nicht mit Rossen und Wagen,
Dienstbar gemachter
Fremder Kraft,
Durch die Menge zu rasseln,
Rechts und Links
Staub und Aussehn
Zu erregen,
Ist mir verliehn.
Sondern mit eignem
Rüstigem Fuße
Die gebahneten Pfade
Nach meinem Ziel
Hinzuwandeln;
Aber wo Neugier
Und kühner Mut
Mich abseits lockt,
Selbst mir im Notfall
Einen zu bahnen;
Fest dabei mich zu stützen
Auf meinen Freund,
Den erkorenen
Wanderstab.
Und so lasse der Gott,
Wenn es ihn freut,
Wie ich's begonnen,
Mich's zum glücklichen
End' auch führen.
In der Frühe des Tages
Wecke die Sonne mich,
Oder der Morgenstern,
Daß ich eine schöne Strecke
In der duftigen Frische wandle,
Eh' im Scheitel
Die Sonne brennt;
Dann die Gluten des Mittags
Unter kühlenden Schatten ich
Schlau vermeide,
Sorglos ruhend,
Sicher doch
Mit vom Abend
Beflügelten Schritten
Des zu erreichenden
Ziels vor Nacht.
Den eitlen Prunk der Städte
Mag ich gerne vermeiden,
Der nicht dem Fuß-
Wanderer ziemt.
Durch lustwandelnder Gaffer
Glänzende Kleider,
Schwebenden Gang,
Mit wundem Tritt
Auf brennendem Pflaster,
Mit staubigem Schuh
Und fliegendem Haar,
Auf dem Rücken das Bündel,
Ein lächerlicher Auszug ist's.
Wenn der Heerweg
Gegangen sein muß,
Der langweilige,
Unerquickliche
In einförmiger Dehnung,
Wo die lastbaren
Räder knarren,
Der Fuhrmann flucht,
Müßige Kutscher,
Vorüberfliegend
Staub aufwirbeln
In des Wanderers Antlitz;
Oder hoch-
Trabende Reuter,
Vorbeigetrabt,
Umsehn nach dem,
Der Schritt mit ihnen nicht halten kann;
Lehre der Gott
Ruhige Fassung
Mich und Geduld,
Daß vom ebenen
Boden ich
Nicht hinauf
Zürne zu denen,
Die gewiegt und geschaukelt,
Weiter kommen,
Als ich mit meines
Schreitenden Fußes Kraftanstrengungen.
Durch die Dörfer im Grunde,
Vorbei die friedlichen Mühlen,
Über blühende Wiesen,
Zeig' er den schlängelnden
Fußpfad mir;
Und hinauf, ins Gebirg,
Waldschluchten hindurch,
Unwegsame dem Reuter,
Mach' er die unbekannten
Steige mir kund;
Daß am Abend ich dennoch
Auf kürzerem Weg
Zurückgewonnen
Den abgewonnenen Vorsprung habe.
Herrlich labt's
Von des hohen Gebirgs
Höchstem errungenen Gipfel,
Stehend, atmend,
Niederzuschaun
Auf die unten liegende Welt,
In die Unendlichkeit um sich her
Den Blick zu verlieren:
Doch ich halte mich lieber
An des abgeschlossenen
Mich umfangenden Tales
Schöne, sichere Begrenzungen.
Ruhend am Bach,
Rücklings das Haupt
Ins Gras gebückt,
Staunend empor
Zu den Bergen blick' ich,
Oder lasse,
Vorwärts geneigt,
In der Flut sich
Neben mir
Die überhangenden spiegeln.
Aus ihrer Nähe
Gewaltigem Odem
Wehet der unerforschten Natur
Schöpferisches
Brausen mich an
Aber wo ihre
Liebsten Geschöpfe,
Meine Brüder,
Die Menschen sich
In den Ebenen
Und im Tale
Still ihr Dasein
Geordnet haben,
Will ich's sehn im Vorübergehn.
Wo die Saaten wogen,
Und Herden läuten,
Ein Dorf versteckt
Aus rauchenden Hütten
Den Kirchturm hebt,
Rühre der fehlenden,
Oder entbehrten
Heimat schmerzlich
Süßes Gefühl
Im Vorbeigehn
Den Wanderer an.
Wo die Bilder der Liebe
In spielender Knaben
Gesundheitsfülle
Auf vollblühenden
Mädchenwangen
Und im funkelnden
Jünglingsblick,
Oder auch
Auf des ruhigen Mannes
Ernster Stirne
Voll Vatersorgen,
Doch ohne Falten,
Mir begegnen
Will ich sie im Vorbeigehn segnen.
Und am Abende,
Wenn ich müde
Vom bewegten
Gemälde des Tages,
Nicht ermattet,
Doch zur Ruhe
Der Nacht mich sehne:
Zeige der Gott
Wenn er mich liebt,
Daß ich das feile
Wirtshausschild
Vorbeigehn kann,
Wo man den Gast um Bezahlung ehrt;
Zeig' er eine
Hütte mir
Mit des Hofes offener Pforte,
Wo, die Sitte der Zeit nicht kennend,
Noch die alte
Gastlichkeit wohnt,
Die den grüßenden
Zu sich ladend,
Ihn am geteilten
Mahl erquickend,
Um Gotteslohn
Geb' Obdach bis zum Morgen.
Und ein freundlicher
Traum besuche
Mich mit dem Schlafe zu Nacht;
Der des Tages
Lust und Leiden,
Licht und Schatten,
Sanft ausgleichend,
Was ihm noch fehlt,
Alles gebe dem Herzen;
Während sein Bruder,
Gliederlösend,
Stärkend im weichen
Arme mich hält;
Bis die Lüfte des Morgens
Beide scheuchen,
Und erwacht
Mit frischer Lust
Der weitern Reise ich gedenke.“
Anmerkung: Für einige Gedichthinweise dankt der Verfasser herzlich Frau Maria Weiß (Glattbach, Unterfranken).