Serie: VOM GLÜCK DES HÖRENS, Teil 4/10

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) - Als ich den Anfang der Geschichte "Gehe hin, stelle einen Wächter" nachlas, verstand ich erst, welche Figuren in dem Roman überhaupt mitspielen. Erst als ich begriff, dass das Buch imgrunde ein Fünfpersonen-Buch ist: Nämlich neben der Hauptfigur Jean Louise Finch spielen eine Rolle ihr Vater Atticus, ihre Tante Alexandra, ihr Onkel Dr. Finch und ihr Freund Henry, genannt Hank.

 

Erst anschließend konnte ich dem Hörbuch sinnvoll weiter folgen. Denn zuvor erschienen alle Figuren des Romans als Abspaltungen von Jean Louise. Der Eindruck dieser Lesung von Nina Hoss entspricht für mich der Fahrt in einer sehr zügigen U-Bahn, die ab und zu an den einzelnen Stationen hält, wo Leute aus- und einsteigen, das Gros der Mitfahrer aber unverändert bleibt, eine fast schon vertraute Gruppe, - und der eng zusammengepreßte Zug, - in London sagt man "tube" (= Röhre, Tube) – fährt zielstrebig immer weiter und weiter. Dabei meist im Licht, nicht in einem dunklen Tunnel.

 

Nina Hoss spielt den Text mehr, als dass sie ihn wertfrei läse. Das macht diese CD so lebendig. Schauspielerin; wörtliche Rede. Wie gesagt: Ich bin manchen Umweg gefahren, nur um weiterhören zu können. Wollte man es negativ ausdrücken, müßte man sagen: Sie drängt sich mit ihrer Lesung zwischen das Buch und den Hörer. Insofern ist es gut, ja notwendig, das Buch ebenfalls zu lesen. -

 

Aber sobald man begriffen hat, worum es sich eigentlich dreht und dass es verschiedene Personen des Buches sind, die da sprechen, hört man den Text des Buches, während man ihn selbst liest, mit der Stimme von Nina Hoss. Die Musik des Textes selber zu lesen, zu hören, ist wohl nur möglich, wenn man das Buch vor der Audio-CD kennenlernt. In meinem Fall ist das anders gewesen, aber ich bereue es nicht. Denn sonst hätte ich vielleicht diesen spannend-grandiosen Hör-Eindruck nicht gehabt. Also, der dem Ziel unaufhaltsam näherkommende Zug. Möglich, dass die erste Szene, Jean Louises Zugfahrt nach Hause, ihre Zugfahrt von New York nach Alabama, wo sie symbolischerweise im Klappbett eingeklemmt wird wie dann in ihrem Leben, mir erst dieses Vergleichsbild verschafft hat. Aber das muß nicht entschieden werden. Denn dieses Bild – durch die Art der Lesung erzeugt – paßt auf genaue Weise zu diesem Roman.

 

Was geschieht eigentlich? Dazu noch eine Vorbemerkung: Harper Lee wurde weltbekannt durch ihr Buch "Wer die Nachtigall stört" von 1960. Im Original klingt der Titel aggressiver: "To kill a mockingbird". Außerdem ist "mockingbird" mit "Nachtigall" nicht korrekt übersetzt. "Nachtigall" heißt auf Englisch "nightingale", während "mockingbird" ins Deutsche übersetzt "Spottdrossel" bedeutet. Dieser Titel bezieht sich auf eine Figur des Romans, deren Verhalten mit dem der Spottdrossel (oder Nachtigall) gleichgesetzt wird.

 

"Nachtigall" ist als Titel im Deutschen natürlich reizvoller als "Spottdrossel", die man zudem hier kaum kennt, während sie in den Südstaaten der USA eine Art Nationalvogel ist. Der Sinn ist aber identisch: Es geht um einen Vogel, den man kaum je sieht, aber hören kann. Dieser erste Roman spielt in den 1930er Jahren, und es geht um Rassismus. Er wurde 1962 verfilmt. Gregory Peck (1916 – 2003), - hier zusammen mit Harper Lee -, erhielt für seine Rolle des Anwalts Atticus Finch 1963 den Oscar als bester Hauptdarsteller. -

 

Die ursprüngliche Fassung des Buches aber war: "Gehe hin, stelle einen Wächter", wurde aber eben aus Gründen der Rasseproblematik von den Verlagen nicht angenommen; man empfahl Harper Lee, die Handlung in eine frühere Zeit zu legen. So entstand die zweite Fassung, die allerdings die Kindheit der Hauptfigur zeigt. Das erste Buch hingegen, das nun im Herbst 2014 wiederentdeckt wurde, - begründete Vermutungen gehen aber davon aus, es sei schon 2011 Sotheby's vorgelegt worden -, zeigt dagegen Jean Louise, als sie schon Mitte 20 ist. Es ist also eine Über-Kreuz-Situation. Fortsetzung folgt