Serie: VOM GLÜCK DES HÖRENS, Teil 5/10

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) - Die Rassenproblematik der amerikanischen Südstaaten in den 1950er Jahren geht am besten aus folgendem Witz hervor, der, genau genommen, kein Witz im eigentlichen Sinne war, sondern unfreiwillige Komik, die sich aus der Bemerkung eines Korrespondenten der "Welt" aus Washington herleitete: Auf die Frage, was ihm in den USA besonders aufgefallen sei, antwortete er: "Dieser bedrückende Rassenhaß – und diese entsetzlich vielen Neger!"

 

Es gibt, man kann das in den Beurteilungen im Internet nachlesen, einige, denen von dieser Rassenproblematik in "Gehe hin, stelle einen Wächter" zu wenig vorkommt. Ich kann das nicht bestätigen. In "Gehe hin, stelle einen Wächter" kommt Jean Louise zu einem Besuch von New York aus nach Hause nach Maycomb, Alabama. Das ist ein Phantasie-Ort. Harper Lee stammt aus Monroeville, Alabama, einem Nest im Süden dieses Staates. Es gibt aber auch einen Ort Malcolm dort; und in Louisiana einen Ort namens McComb (am Mississippi, nördlich von New Orleans).

 

Das mag zu 'Maycomb'geführt haben. Natürlich ist das völlig nebensächlich. Wichtig aber ist, dass dieses Maycomb eine Kleinstadt in den Südstaaten ist. Atticus Finch ist angesehener Anwalt, der aber nun gealtert ist und dessen Körper und Gliedmaßen sich durch eine Krankheit mehr und mehr versteifen. Seine mangelnde Gesundheit ist ein Grund, weshalb Jean Louise diese Reise in den Süden angetreten hat. Aber ihre Rückkehr führt zu einer anhaltenden Verstörung bei ihr. Nichts ist mehr so, wie sie es verlassen hatte. Und das möchte man ja: Während man sich in der Fremde entwickelt, studiert, Freunde finde, liebt, soll zu Hause alles so bleiben, wie es war. Dass sich die Welt auch dort weiterdreht, ist immer wieder eine Bestürzung. So ergeht es auch Jean Louise.

 

Die Freundschaft zu ihrem Jugendfreund Henry, eine halbe Liebe, die in eine Ehe münden könnte, wird am Ende von Jean Louise aufgekündigt. 'Lieben kann man, wen man will, aber heiraten sollte man jemanden, der einem gewachsen ist', lautet sinngemäß der Kommentar. Und genau darum geht es: Man selbst zu werden. Es ist das Buch eines Menschen, der erwachsen wird. Daher ist das Bild des auf sein Ziel zueilenden Schnellzugs ganz richtig: So eilt Jean Louise ihrem eigenen Ich entgegen, wird an ihre Herkunft verhaftet. Und wenn Nina Hoss' Lesung dieses Bild im Zuhörer entstehen läßt, so ist zu erkennen, dass Nina Hoss hier ihren eigenen Eindruck des Textes gelesen hat – und so, durch diesen Hör-Eindruck, dem Leser eben dieses Bild vermittelt.

 

Wir lernen hier Jean Louise Finch und ihre Familie kennen. Begleiten sie vom schon etwas älteren Kind-Dasein hinein in die Pubertät und die Probleme, die dieser Umbruch für sie bedeutet. Sie, die bisher mit den Jungen getobt hat und ihnen mindestens ebenbürtig im Sportlichen war, blutet plötzlich. Später bekommt sie von einem Klassenkameraden einen Zungenkuß – und meint nun, schwanger zu sein. Sie will sich einen Tag vor der erwarteten Geburt von einem Turm herabstürzen, wird aber, natürlich, fürsorglich gerettet. Maycomb ist eine Kleinstadt, in der man so leicht keinen unbeobachteten Schritt tun kann. Hier sind vermutlich eigene Erfahrungen von Harpe Lee deutlich eingeflossen. Die schwarze Haushälterin Calpurnia klärt Jean Louise auf. All diese Ereignisse erfahren wir als Rückblende. Denn die Gegenwart bedeutet für Jean Louise ja, mit einer unfreundlich gewordenen Welt konfrontiert zu werden. Hatte sie ihren Vater dafür bewundert, einen wegen Vergewaltigung angeklagten Negerjungen gerettet und für einen Freispruch gesorgt zu haben, stößt sie jetzt auf seinem Tisch auf eine rassistische Hetzschrift und sieht ihren Vater, aber auch ihren Verlobten in einer politischen Versammlung, in der es auch nur darum geht, die Aufwärtsentwicklung der US-amerikanischen Neger zu verhindern.

 

Zur selben Zeit streikte der überwiegende Teil der schwarzen Bevölkerung von Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, geben die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dieser Streik dauerte fast 13 Monate. Am Ende wurde diese Rassentrennung als verfassungswidrig verurteilt. Fortsetzung folgt

 

Foto: Nina Hoss