Serie: VOM GLÜCK DES HÖRENS, Teil 9/10

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) - "Das Decamerone"zählt zu den großen Textquellen unserer Welt. Ein Steinbruch, der immer wieder geplündert wird, ohne von seinem Reichtum zu verlieren. -Das Hörspiel ist eine NDR-Produktion, deren Texteinrichtung dort Hanjo Kesting (*1943), der weit Überschätzte, durchgeführt hat.

 

 

Alles, was er anfaßt, gelingt etwas steif-trocken, und, wäre es wissenschaftlicher, akademisch. Immer fehlt es an Feuer, Schwung, Richtung und Bewegung und einer gewissen geistigen Leichtigkeit. Es ist alles ein bißchen schwergängig.

 

Das trübt ein bißchen die Freude an dem "Decamerone", dessen Titel das griechische Wort "deka" ("zehn") enthält. Das "Decamerone" ist ein 'Zehn-Tage-Werk'. Dieses Werk wird auch von zehn Personen hervorgebracht: 7 Frauen und 3 Männer sind aus Florenz geflohen vor der Pest, die dort wütet. Das war nicht dichterische Erfindung, sondern eine bedrückende Erfahrung der Gegenwart. Die Pest wütete 1348 in Florenz. Boccaccios Vater ging an ihr zugrunde. Boccaccio mußte daher nach Florenz reisen, um den Nachlaß zu klären. Er selbst überlebte die Seuche.

 

"Das Decamerone" entstand wahrscheinlich zwischen 1349 und 1353. Die 10 Personen, die aus Florenz flohen, haben sich in eine Villa in den umliegenden Bergen zurückgezogen und vertreiben sich die Zeit durch das Erzählen von Geschichten. Sie bleiben 10 Tage dort. (Daher 'Zehn-Tage-Werk'.) An jedem Tag werden wiederum 10 Geschichten (Novellen) erzählt. Die "10" war für Boccaccio eine vollkommene Zahl, die er numerus perfectissimus genannt hat. Boccaccio orientierte sich dabei aber gleichfalls auch an Dantes "Göttlicher Komödie", die in 100 Gesänge gegliedert ist.

 

Es finden sich sozusagen mehrere Ur-Legenden in diesem besonderen Werk. Der Quellen-Reichtum scheint unausschöpflich. Shakespeare (1564 – 23.4.1616), Cervantes (1547 – 23.4.1616), Hans Sachs (1494 – 1576), Rabelais (1483 – 1553), Jonathan Swift (1667 – 1745), Goethe (1749 – 1832), Balzac (1799 – 1850) sind nur einige der bekanntesten Dichter, die sich bei Boccaccio bedient haben.

 

Gleich die erste Geschichte auf der CD (im Buch die 3. des I. Tages) behandelt die 400 Jahre später durch Lessing (1729 - 1781) berühmt gewordene "Ring-Parabel" aus "Nathan der Weise" (1779), die man als eine Religions-Versöhnung verstehen kann, indem die Entscheidung, welche der drei Religionen, die christliche, die moslemische, die jüdische denn die beste sei, auf eine ungewisse Zukunft verschoben wird. Ein geniales Märchen, das man auch heute wieder nicht oft genug zitieren sollte.

 

 

 

Das "Echolot" von Walter Kempowski wurde von Walter Adler (*1947) bearbeitet. Es ist etwas spröde geraten, aber gleichwohl eine Textsammlung, der man über weite Strecken gebannt zuhört. Das liegt an den hervorragenden Sprechern, die hier mitwirken. Kempowski hat für das "Echolot", seine wohl bedeutendste Leistung überhaupt, mehr als 5.000 Familien-Nachlässe archiviert und ausgewertet. Mehr als 200 der besten deutschen Schauspieler und Sprecher haben die Texte gesprochen. Kempowskis "Echolot" ist tageweise aufgebaut. Es gibt jeden Tag wiederkehrende Stimmen, die den Rhythmus angeben. Das sind oft Tagebuch-Aufzeichnungen, die dann verwendet wurden. Teils sogar auch von bereits bekannten Autorentexten. Dazu treten viele ganz unbekannte Notizen, Brief-Auszüge, Text-Fetzen ohne genauere Bestimmung, von Autoren, die nicht jeden Tag erscheinen, sondern auch ganz vereinzelte Stimmen. - Das "Echolot" erschien zuerst 1993 und behandelte die Kriegswende 1942-1943, ein grandioses Buch, ein grandioser Erfolg.

 

So konnte wenige Jahre später (1999) der zweite Teil des "Echolots" erscheinen, nämlich über den Winter 1945. Teil 3 über den Rußlandfeldzug 1941 erschien 2002. Und schließlich 2005 der "Abgesang '45".

 

Das vorliegende spannende Hörspiel entstand bereits 1995. Kempowski stellte dafür Material aus dem Jahre 1945 zur Verfügung, so dass dieses Hörspiel eine komprimierte Verbindung aus den beiden 'Echoloten' für 1945 darstellt. Die Grauenhaftigkeit des Krieges, der allmählich nach Deutschland hineindringt, - dieser eindrucksvollen Wirkung kann man sich nicht entziehen und will sich auch gar nicht entziehen. Kempowski hat die verschiedenen Stimmen kommentarlos aneinander gereiht. Darin liegt gerade der Reiz seines "Echolots"! Der Leser oder Hörer zieht selbst seine Schlüsse. Darin liegt auch der Erfolg dieser Textsammlungs-Bücher. Billy Wilder (1906 - 2002) sagt einmal, man müsse das Publikum selbst 2 und 2 zusammenzählen lassen: Es würde einen dafür lieben!

 

Von diesen 200 hervorragenden Sprechern und Schauspielern gefielen mir drei ganz besonders gut, weil sie das Historische gleichzeitig durchbrechen und doch zeigen, dass es ihnen bewußt ist: Otto Sander (1941 - 2013), Ulrich Wildgruber (1937 – 1999) und Corinna Kirchhoff (*1958).

 

Also eine unbedingt hörenswerte CD. Fortsetzung folgt.