Die Neuentdeckung eines Buches, das zunächst nicht erscheinen durfte:

Der Überläufer“ von Siegfried Lenz

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Siegfried Lenz‘ Roman „Der Überläufer“ erscheint erst 65 Jahre nach Abschluss des Manuskripts. Weil der Verlag die Marktchancen dieser Erzählung falsch einschätzte. Unmittelbar nach der Kapitulation des NS-Staats wäre das Thema nach Auffassung des damaligen Lektors noch akzeptiert worden. 1951 aber befand sich das westliche Deutschland erneut in einem antikommunistischen Feldzug, der von der Führungsmacht USA als Kampf um die Freiheit etikettiert wurde.

 

Da passte die Geschichte eines deutschen Soldaten, der im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs desertiert war und sich der Roten Armee angeschlossen hatte, nicht mehr ins Bild. Jetzt, mehr als ein Jahr nach Siegfried Lenz‘ Tod, ist das Manuskript den Nachlassverwaltern aufgefallen, die es mit ausführlichen editorischen Anmerkungen versehen veröffentlichten.

 

Thema und Sprache des „Überläufers“ sind vergleichbar mit Heinrich Bölls eindrucksvollem Antikriegs-Roman „Der Zug war pünktlich“. Authentisch und ergreifend wird über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten berichtet. Und über Menschen und Zivilisten, die mit jedem Tag, den diese Gefechte andauern, ein Stück von ihrer Menschlichkeit und Würde verlieren.

 

Der Soldat Walter Proska befindet sich in einem Militärzug, der ihn nach einem kurzen Urlaub im heimatlichen Masuren an die Front im südöstlichen Polen zurückbringt. Bei einem Zwischenhalt ermöglicht er einer jungen Frau die Mitfahrt zum nächsten Ort, obwohl das streng verboten ist. Doch Wanda, so heißt das Mädchen, ist attraktiv, es spricht Deutsch und Proska verspürt seit langem wieder ein Gefühl für das normale Leben, das er seit fünf Jahren nicht mehr führen kann, nicht mehr führen darf.

 

Bei einer Kontrolle durch die Feldjäger drängt er Wanda hinaus auf die Gleisböschung, um sie vor dem Zugriff zu schützen. Als die Gendarmen den Zug verlassen haben, öffnet Proska die Abteiltür und möchte Wanda wieder hereinlassen. Doch die ist verschwunden.

 

Wenig später läuft der Zug auf eine Mine und wird zerstört, aber Proska überlebt. Eine versprengte deutsche Einheit nimmt ihn auf. Mitten im Partisanengebiet wird versucht, militärische Normalität zu leben. Aber keiner glaubt mehr an den Sinn der Unternehmungen. Es wird auf alles und jeden geschossen und schließlich wird auch dieser Haufen aufgerieben - bis auf Walter Proska. Der sieht sich plötzlich der Roten Armee gegenüber und auch Wanda, die sich als Partisanin entpuppt.

 

Der Deutsche folgt seiner Liebe und der Einsicht, am Ende für die Sache der Überfallenen Partei ergreifen zu müssen - auch, um selbst überleben zu können. Sechs Jahre später, er lebt an einem nicht genannten Ort in Westdeutschland, erinnert er sich dieses letzten Kriegsjahres und wird von Schuldgefühlen geplagt.

 

Lenz zweiter Roman (nach: „Es waren Habichte in der Luft“) vermittelt die Atmosphäre, die jeweils am Ende des Kriegs und während der ersten Jahre der Bundesrepublik weithin herrschte. Sprachgewaltig, weil ungekünstelt und bis ins Detail präzise, entsteht mit jedem Kapitel der Rückblick auf eine Zeit, die im individuellen und im kollektiven Gedächtnis nicht mehr erinnerungswürdig war. Weil sie der Begründung einer neuen Verlogenheit im Wege stand.

 

 

 

Info

 

Siegfried Lenz: Der Überläufer

Verlag Hoffmann & Campe

368 Seiten. Fester Einband

ISBN 978-3-455-40570-5

Ladenpreis 25 Euro