Nichts Neues aus Mittelerde?
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Anlässlich des Erscheinens des Zweiten Teils des „Buchs der Verschollenen Geschichten“ Mitte der 80er Jahre hieß es, nun läge das vorerst letzte Geschenk an alle Freunde Tolkiens aus dem Nachlass des Meisters vor. Im Laufe der Jahre begannen dann aber seltsame Einzeleditionen aus dem „mythologischen“ Werk Tolkiens in der Welt jenseits von Mittelerde zu zirkulieren – mehr oder weniger in sich abgeschlossene, durchaus eigenständig zu nennende Bruchstücke aus dem „Silmarillion“ und den „Nachrichten aus Mittelerde“, die von Feanors Fluch oder Tuor und dessen Ankunft in Gondolin handelten.
Nun liegt hier eine umfangreichere Sonderausgabe einer der wichtigsten Episoden der Altvorderenzeit vor, nämlich die im Titel beschworene Geschichte der Kinder Hurins, also Turin Turambars und Nienor Niniels – Tolkienexegeten mögen dem Rezensenten verzeihen, dass in dieser Rezension auf eine korrekte Akzentsetzung verzichtet wurde; man wird aber gewiss noch in anderer Hinsicht auf seine Kosten kommen. Der Herausgeber, Tolkiens jüngster Sohn Christopher, erörtert in Vor- und Nachwort detailliert seine editorische Vorgehensweise. Grundlage dieser Veröffentlichung war der Wunsch seines Vaters, eben jenen Erzählzyklus, der wie kaum ein anderer Text über das Erste Zeitalter die Möglichkeit zu einer selbständigen Darbietung geboten hätte und so als idealer Einstieg in die vielen Lesern immer noch fremdartig und unzugänglich erscheinende archaische Welt der jahrtausendelangen Vorgeschichten der Exkursion der Zwerge mit Bilbo Beutlin und Gandalf zur Höhle des Drachen Smaug oder der Geschichte des Großen Ringkriegs hätte dienen können, gesondert zu publizieren.
Nun gut, eine solche Einstiegsmöglichkeit besteht jetzt also mit diesem Buch. Basierend auf den Fassungen des „Silmarillions“ und der „Nachrichten aus Mittelerde“ hat Christopher Tolkien eine Version erstellt, die sich vor allem durch Vollständigkeit und Geschlossenheit auszeichnet. Hinsichtlich vieler früherer Lücken ergänzten sich die bisherigen Ausgaben durchaus harmonisch, stellenweise wurde auf in der Form noch unveröffentlichtes Material zurückgegriffen, hier und da mussten einige Übergänge geglättet und manche Ungenauigkeit und mancher Widerspruch getilgt werden. Arno Schmidt, der sich immer wieder gerne darüber mokierte, dass in deutschen Romanen der Vollmond bevorzugt über nördlichen Gebirgen stünde, was gar nicht möglich sei, hätte sicher seine Freude an der Detailversessenheit des Herausgebers gehabt, dem bei der Schilderung des Aufbruchs Turins und seiner Gefährten von Nen Girith zu den Teiglin-Stegen nach immerhin jahrzehntelanger editorischer Betreuung des Werks seines Vaters eine minimale Unstimmigkeit bezüglich des Stands der Sterne am Nachthimmel von Beleriand auffiel, welche ihn eine kleine, aber bezeichnende Korrektur vorzunehmen bewog. Das sind Momente, die einen nicht zu unterschätzenden Teil des Faszinosums, das Tolkiens Werk sowie die Beschäftigung mit demselben umflort, ausmachen.
Und auch so macht das Buch für sich genommen einen sehr sympathischen Eindruck – ein phantastischer Text, „geschrieben im archaisch-klaren Stil isländischer Sagas“, wie man so sagt; ausführlichen Erläuterungen im Anhang, die dem Kenner als Gedächtnisstütze zu dienen und dem Anfänger erste Orientierungshilfe zu bieten vermögen; stimmungsvolle, unaufdringliche Farbillustrationen von Alan Lee sowie ein angenehmes Schriftbild. Gleichwohl hinterlässt der ganze Hintergrund des Ganzen ein ungutes oder zumindest zwiespältiges Gefühl.
Nichts spricht dagegen, Einzelepisoden aus einer größeren Einheit zu lösen, wenn es sich dabei um eine sinnvolle Operation handelt, was hier durchaus der Fall war, wenngleich man einwenden könnte, dass es eine entsprechende Überarbeitung der Kommentarteile des „Silmarillions“ und der „Nachrichten aus Mittelerde“ und ein paar ergänzende editorische Notizen in späteren Auflagen dieser Bücher unter Umständen auch getan hätten. Auch werfe niemand dem Rezensenten vor, er beabsichtige, überkommene Einwände in Richtung Kommerzialisierung andeuten zu wollen, wenn er darauf verweist, dass es sich der Verlag mit der Übersetzung ziemlich leicht gemacht habe, da man hier einfach die meisten Textpassagen den „Nachrichten aus Mittelerde“ in der Übersetzung von Hans J. Schütz entnommen hat und alles darüber hinausgehende von Helmut W. Pesch hat übersetzen lassen – Wiederverwertung muss keine Sünde sein, wenn dadurch Bewahrenswertes tradiert wird, und das trifft in der Regel auf Übersetzungen von Hans J. Schütz zu.
Nein, das immer nur angedeutete, aber immer noch uneingestandene Problem, das im Vorwort nur kurz gestreift wird, obwohl es ja der eigentliche Beweggrund für Veröffentlichungen dieser Art ist, liegt in der merkwürdigen Scheu weiter Teile der Tolkien-Gemeinde vor den Werken, die das Erste und Zweite Zeitalter zum Gegenstand haben – dem „Buch der Verschollenen Geschichten“, den „Nachrichten aus Mittelerde“ und dem „Silmarillion“. Dem letzteren wurde seine bisweilen als gravitätisch charakterisierte Schreibweise zum Verhängnis, die man, je nach Lust und Laune, als „nordisch klar“ oder als „steifen, biblisch-tümelnden Traditionalismus“ zu klassifizieren beliebte. Die ersteren beiden schreckten ab aufgrund einer Sperrigkeit, die aus Fußnoten und unterschiedlichen Drucktypen (zur Verdeutlichung der Textstufen) sowie einem manchen Lesern offenbar zu umfangreichen Anmerkungsapparat resultieren mochte.
Man muss nun wirklich nicht in Vladimir Nabokovs anlässlich der Einwände mancher Leser (auch seines Freundes Edmund Wilson) seiner „Eugen Onegin“–Übersetzung gegenüber geäußerte Polemik wider ein von romantisierenden Nachdichtungen verwöhntes Lesepublikum einstimmen, das man mit Sperrdrucken und eckigen Klammern nur so traktieren müsse, um es zu erziehen – eine historisch-kritische Tolkienausgabe, deren Besorgung gewiss noch manch andere Tücken bergen dürfte, scheint so in jedem Falle noch in allzu weiter Ferne zu liegen. Eine Kassettenedition aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre mit dem verheißungsvollen Titel „Die Sagen Mittelerdes“ verzichtete merkwürdiger– oder besser bezeichnenderweise auf die „Nachrichten“ und enthielt dafür ein fachkundiges, aber im aufgesetzt humoristischen Gestus bisweilen problematisch anmutendes, „Handbuch der Weisen von Mittelerde“ betiteltes Nachschlagewerk.
Hans Mayer sprach einst im Zusammenhang mit dem „Ring des Nibelungen“ davon, dass sich hier sehr deutlich die Scheidelinie zwischen dem populären und dem unpopulären Wagner ablesen lasse – populär sei der erste Walkürenakt und Wotans Abschied, unpopulär hingegen Wotans Monologe im zweiten Walkürenakt (gegen die man aber durchaus auch vernünftige Argumente vorbringen kann, aber das nur so nebenbei), das Rheingold, kurz: die ganze Mythologie. Ähnlich sieht es wohl mit der Rezeption Tolkiens aus: Dachte man früher, ein Charakteristikum seiner Leser sei der leidenschaftliche philologische Eifer, mit dem diese, ausgehend von der Gegenwart der Hobbits und des Ringkriegs, in die Tiefen der Geschichte Mittelerdes vorzustoßen trachteten, welche für diese Gegenwart eine beeindruckende, geheimnisvoll schillernde und dabei durchaus anheimelnde Folie darstellten, so muss man heute hingegen konstatieren, dass die Altvorderezeit in den Augen vieler Tolkienleser offenbar eine Vergangenheit ist, die einfach nicht vergehen will und die man dem Publikum immer nur häppchenweise und mundgerecht zubereitet zumuten dürfe. Noch hält das Werk Tolkiens, ob nun publiziert oder unpubliziert, genügend Möglichkeiten für manch weiteren Remix bereit, und das ist auch gerade noch gut so. Doch irgendwann sind die Kombinationen alle durchgespielt – und was kommt dann? Die radikale Minderheit der Hobbit- und Ringverächter unter den Lesern Tolkiens befürchtet das Schlimmste: Engagieren Tolkiens Erben dann etwa aktuelle Fantasyroutiniers, um die Geschichte Ardas von der Ainulindale bis zum Akallabeth in Form zeittypischer Endloszyklen neuen Lesergenerationen schmackhaft zu machen? Oh Elbereth Gilthoniel!
J. R. R. Tolkien: Die Kinder Hurins
Übersetzt aus dem Englischen von Hans J. Schütz und Helmut W. Pesch
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007
333 Seiten, 19,90 EUR
ISBN 3608936033
ISBN-13 9783608936032
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12062&ausgabe=200807 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.