Grundsätzliches über Michael Moorcock – anläßlich einer Neuübersetzung seiner „Imitatio Christi“

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dietmar Dath bezeichnete Michael Moorcock im Sommer 1994 anläßlich der Ankündigung des Erscheinens des vierten und letzten Colonel Pyat-Romans als den "Schriftsteller des Urbanen", von dessen 80 Büchern zwar 60 Schrott seien, "aber noch im Schlechtesten findet sich ein Wort zum Tage. Selbst wenn er will, kann er nicht miserabel schreiben, denn so miserabel er dann häufig wirklich schreibt: er denkt zu heftig dabei. Moorcock, einer von den Allergrößten in diesem Jahrhundert".

 

 

Wenngleich diese Charakteristik nicht frei von typisch Dathschen Übertreibungen ist, berührt sie doch den Kern der Problematik, mit welcher sich konfrontiert sieht, wer den Autor Moorcock im Wortsinne beim Worte zu nehmen sucht. Wer sich ernsthaft mit der literarhistorischen Entwicklung der Science Fiction und der Fantasy auseinandersetzen möchte, wird an der Gestalt des 1939 geborenen Engländers Michael Moorcock in der Tat nicht vorbeikommen können. Moorcock, der bereits mit drei Jahren lesen konnte, als Siebzehnjähriger Redakteur einer Comicheftreihe war, jahrelang als Bluessänger und Gitarrist Europa und Nordamerika bereiste und nebenbei eine schier uferlose schriftstellerische Aktivität entwickelte und in den verschiedensten Sparten reüssierte – von der Science Fiction bis zum Spionage Thriller und vom historischen Roman bis zur Fantasy – ist seit Jahrzehnten eine der einflußreichsten wie umstrittensten Persönlichkeiten der modernen phantastischen Literatur.

 

Im Jahr 1964 übernahm Moorcock von Ted Carnell die Herausgeberschaft des bis dato eher biederen britischen SF-Magazins „New Worlds“ und löste schon bald eine kleine literarische Revolution aus, da sich unter seiner Ägide „New Worlds“ zum Zentralorgan der angloamerikanischen „New Wave“ entwickelte, deren Vertreter die Science Fiction für experimentelle Schreibweisen einerseits und stärkeres politisches Engagement andererseits zu öffnen bestrebt waren. In ihrer zum Teil harschen Ablehnung eines Großteils der marktbeherrschenden traditionellen Science Fiction, die immer noch vorwiegend durch die Person John W. Campbell jrs. geprägt war, der als Herausgeber des legendären Magazins „Astounding“ in den vierziger Jahren das „Golden Age“ der primär naturwissenschaftlich orientierten US-amerikanischen Science Fiction eingeläutet hatte, dem man in späteren Jahren aber immer häufiger vorwarf, in reaktionären Positionen erstarrt zu sein, brachten Moorcock und seine Mitstreiter viele Leser gegen sich auf, weshalb „New Worlds“, trotz seiner Bekanntheit, die es auch dem Protest verschiedener konservativer Politiker verdankte, deren Ablehnung sich nicht nur an provokanten Inhalten wie etwa Norman Spinrads Wahlkampfthriller „Bug Jack Barron“, sondern auch an der zeitweiligen Subventionierung des Magazins durch den „Arts Council“ entzündete, immer wieder am Abgrund des Bankrotts balancieren sollte, bis es schließlich 1970 eingestellt wurde.

 

Die hitzigen Debatten der Vergangenheit sind längst Literaturgeschichte; Klassiker brachten, wie Alfred Elton van Vogt einmal formulierte, sowohl die Großen Denker des „Golden Age“ als auch die Großen Herzen der „New Wave“ hervor, wie es auch auf beiden Seiten genügend Erzeugnisse gab, die der, teils berechtigten, teils ungerechtfertigten, Vergessenheit anheimfielen. Unter den Autoren der „New Wave“ nahm Michael Moorcock stets eine Sonderstellung ein. Seine Bedeutung für einen Wandel des literarischen Bewußtseins innerhalb der Science Fiction ist gewiß unbestritten – allerdings in erster Linie als Anreger und Herausgeber. Moorcocks eigenes literarisches Werk, insbesondere das der 60er und 70er Jahre, wurde trotz oder gerade aufgrund seiner Vielseitigkeit und Popularität von der Kritik überwiegend skeptisch aufgenommen.

 

Da Moorcock bereits Mitte der 60er Jahre erkannte, daß sein kompromißloser Kurs finanzielle Risiken barg, sicherte er seine editorischen Tätigkeiten durch Einnahmen aus seiner schriftstellerischen Arbeit ab. Um die zunächst wenig Gewinn versprechenden Experimente der „New Wave“ zu finanzieren, mußte Geld durch Texte hereinkommen, die ein Massenpublikum zu begeistern wußten, dabei jedoch keinen Verrat an Moorcocks herausgeberischen Idealen darstellten. Insbesondere mit seinen Fantasy-Zyklen um den „Ewigen Helden“, eine Art Sinnbild des Menschen im Spannungsfeld der abstrakten Prinzipien von Ordnung und Chaos, welche beide in ihrer Totalität als gleichermaßen lebens- wie menschenfeindlich sich erwiesen und zwischen denen sich der Held in zahlreichen Inkarnationen – am bekanntesten sind hiervon sicherlich die Romane um Dorian Falkenmond, den Herzog von Köln, um Prinz Corum Jhaelen Irsei von den Vadagh und vor allem um den Albino Elric von Melnibone mit seinem seelentrinkenden Schwert Sturmbringer – in den verschiedensten Welten zu behaupten sucht, verhalfen Moorcock zu einem enormen ökonomischen Erfolg und etablierten ihn auch rasch als Klassiker der modernen, nachtolkienschen Fantasy. Gleichwohl sollte sich insbesondere an ihnen die Kritik am Autor Moorcock entzünden.

 

Weitgehend unbestritten war, daß Moorcock sich in diesen Romanen auf durchweg redliche Weise bemühte, die Stereotypen der trivialeren Spielarten der Heroic Fantasy, der sogenannten „Sword and Sorcery“, als Chiffren für eine tragische Weltsicht zu verwenden, die der Umbruchsituation der 60er und 70er Jahren angemessen erschien. Anders als viele Repräsentanten des damals erst allmählich in die Gänge kommenden Fantasybooms, deren Helden in mißverstandener Nachfolge Robert Ervin Howards und dessen Conan allzu häufig zu reinen Totschlägern mutierten, erwiesen sich die Inkarnationen von Moorcocks „Ewigem Helden“ überwiegend als Anti-Helden, „mehr der Kithara als dem Schwert ergeben“, wie Pylades seinen Freund Orest in Gerhart Hauptmanns „Elektra“ der Titelfigur gegenüber charakterisiert. Seine Figuren geraten meist erst durch Schockerfahrungen mit dem Phänomen der Gewalt in Berührung und können oft nur unter Drogeneinfluß oder im Banne magischer Schwerter zu mehr oder weniger eigenständigen Kämpfern werden, die sich aber letztlich in der Regel früher oder später selbst zugrunderichten, da ihre Siege hauptsächlich Pyrrhussiege sind, oder die sterben müssen, wenn die Welt ihrer nicht mehr bedarf.

 

Problematisch erschien jedoch den meisten Kritikern die formale Beliebigkeit dieser Geschichten. Moorcock legte hier keine exemplarische, wohldurchdachte und abgewogen auskomponierte Version seiner Fantasy-Konzepte vor – eine solche durchaus vollbracht zu haben, attestierte man ihm später vereinzelt angesichts seiner Spenser-Travestie „Gloriana“ – , sondern sich in ihrer thematischen Struktur häufig ähnelnde, je nach Belieben um einzelne Episoden zu straffende oder auszudehnende Romanzyklen, denen nicht allein die letzte künstlerische Entschiedenheit fehlte, sondern die zudem stets Gefahr liefen, in ihrem Bestreben, die Stereotypen der „Sword and Sorcery“ und die Rezeptionshaltung der Mehrzahl ihrer Leser subtil zu unterlaufen, zu subtil zu geraten und in ihrem subversiven Anspruch verkannt zu werden, da die entsprechenden Anspielungen häufig zu raffiniert verborgen waren und schlichtweg übersehen und folglich die entsprechenden Bücher als typische Produkte dessen wahrgenommen wurden, was sie produktiv zu überwinden beanspruchten.

 

Immerhin war es ihm auf diese Weise möglich, den stets zu verebben drohenden Kassenpegel von „New Worlds“ halbwegs im schwarzen Bereich und somit ein Forum für unkonventionelle und vorwiegend jüngere SF-Autoren am Leben zu halten – neben dem schon erwähnten Norman Spinrad vor allem James Graham Ballard, Brian W. Aldiss, David I. Masson, Langdon Jones, M. John Harrison, Gene Wolfe, Roger Zelazny, Thomas M. Disch, John T. Sladek, Michael Butterworth, Pamela Zoline und natürlich sich selbst.

 

Die Einschätzung von Moorcocks dezidiert anspruchsvolleren Werken aus jener Zeit ist ebenfalls keineswegs einhellig positiv. Gerade sie schienen vielfach nur zu bestätigen, daß der Autor Moorcock in offensichtlich experimentellen, sozialkritischen und Genrekonventionen kompromißlos überrennenden Texten nur selten die Ansprüche des Herausgebers und Kritikers Moorcock einigermaßen adäquat umzusetzen wußte. Abgesehen davon blieben die meisten dieser Bücher recht unpopulär, mit Ausnahme der Chroniken um Jerry Cornelius, die rasch Kultstatus erlangten und Elric und Corum zeitweise durchaus Konkurrenz zu machen verstanden – und seines ursprünglich als Erzählung publizierten und später auf die Länge eines kurzen Romans erweiterten Textes „Behold the man“, im deutschen Sprachraum unter dem Titel „I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine“ bekannt.

 

Dieses ein weitverbreitetes feuilletonistisches Bedürfnis nach einem chef d´oeuvre offensichtlich befriedigende Opus repräsentiert weltweit bei vielen Lesern und Kritikern seit bald 40 Jahren den „anspruchsvollen“ und zugleich bei der Verwirklichung seiner künstlerischen Zielsetzungen auch tatsächlich erfolgreichen Michael Moorcock. Es brachte ihm in beiden Fassungen einen Hugo Gernsback Award und einen Nebula Award ein. Brian W. Aldiss rühmte es in seinem „Billion Year Spree“ als „das stärkste Argument“ gegen die Ansicht, Moorcock habe kläglich bei der Umsetzung dessen versagt, was er von der Kanzel von „New Worlds“ herab verkündete, und auch der gewiß von sämtlichen Musen liebkoste Verfasser des Deckblatttextes der bei Piper erschienenen Neuübersetzung versichert, man habe es hier mit einem visionären Klassiker zu tun, dem bedeutendsten Zeitreiseroman seit H. G. Wells „Zeitmaschine“ und einem der wichtigsten phantastischen Werke des 20. Jahrhunderts.

 

Erzählt wird die Geschichte Karl Glogauers, Sohn eines aus Hitlerdeutschland nach England emigrierten jüdischen Elternpaares, der nach der Trennung seiner Eltern sowohl unter seiner dominanten Mutter als auch den Attacken seiner „native born“ britischen Altersgenossen zu leiden hat, sich als Student in zahllose erotische Abenteuer stürzt und den Sinn des Lebens sucht, auf dessen Spur er zumindest in den Schriften C. G. Jungs stößt. Glogauer, von dem man übrigens in anderen Büchern erfährt, daß er eine weitere Inkarnation des Ewigen Helden darstellt, nutzt nach dem Bruch mit seiner langjährigen Freundin Monica die Chance, das Geheimnis Jesu Christi zu ergründen: Als Jude in christlicher Umwelt schon seit Kindertagen von der Gestalt Jesu fasziniert, bietet er sich einem verkrachten Wissenschaftler, der ihm zuvor auch eine homosexuelle Beziehung offerierte, die Glogauer allerdings ablehnte, als lebendes Versuchskaninchen für dessen Zeitexperimente an und läßt sich mit einer Zeitmaschine ins Jahr 29 nach Christus versetzen.

 

Nachdem das Vehikel bei der Ankunft unwiderruflich in die Brüche gegangen ist, sucht Karl den Ort Nazareth auf, wo er tatsächlich den Zimmermann Joseph antrifft, zu dessen zurückgebliebenem Sohn Jesus schon öfters Fremde pilgerten, die in seinem Stammeln orakelhafte Aussprüche und Offenbarungen göttlicher Weisheit vermuteten. Dieser Jesus, von dessen Mutter, der ehrgeizigen und alles andere als jungfräulichen Maria, Glogauer anläßlich eines Beischlafs erfährt, daß er die Frucht eines Seitensprunges ist, kann unmöglich der Messias sein. Gab es überhaupt keinen Jesus von Nazareth, wie ihn uns das Neue Testament überliefert, oder ist Glogauer in einem Paralleluniversum gelandet, dessen Geschichte hier einen anderen Verlauf zu nehmen beginnt als die Geschichte unserer Welt?

 

Desillusioniert zieht der Zeitreisende durch die Lande, verblüfft alle Leute mit seinen Kenntnissen der heiligen Schriften und gerät immer mehr selbst in die Rolle des Jesus von Nazareth hinein. Systematisch sucht er nach den zwölf Aposteln und versucht, der Geschichte genau den aus den Evangelien bekannten Verlauf zu geben. Sein charismatisches Auftreten fesselt die Massen bei seinen Predigten und hilft ihm, im heutigen Sprachgebrauch an psychosomatischen Beschwerden leidende Menschen zu heilen. Den Verrat des Judas und seine Festnahme leitet er selbst in die Wege, und noch am Kreuze hängend, vermag seine Ausstrahlung zu überzeugen: Sein Flehen, ihn doch bitte wieder herunterzuholen, gerät in den Ohren der Anwesenden zu einer Anrufung des Elias oder zur Bitte an seinen himmlischen Vater, den Menschen zu vergeben, da diese nicht wüßten, was sie täten.

 

Eine literarische Revolution oder gar ein erzählerisches Meisterwerk hat Moorcock mit dieser Geschichte nicht vorgelegt, wohl aber ein Stück Literatur, dem man auf weite Strecken durchaus Solidität zu bescheinigen vermag, das indes an anderer Stelle den Eindruck unfreiwilliger Schaumschlägerei erweckt. Die besondere Stärke der Romanfassung zeigt sich vor allem in Moorcocks Handhabung einer durchaus komplexen Erzählstruktur: Der Roman erzählt zum einen linear die Ereignisse, von Glogauers Ankunft in der Vergangenheit an bis zur Kreuzigung, springt dabei aber immer wieder zur – gleichfalls weitgehend linearen – Schilderung seines Lebens im 20. Jahrhundert um, was in diesem Fall unaufgesetzt und gekonnt wirkt. In jeder Hinsicht aufgesetzt und gewollt tiefsinnig wirken hingegen die zahllosen und vielleicht auch wahllos eingesetzten inneren Monologe Glogauers sowie die fundiert klingenden, im Gesamtzusammenhang aber nur mit Worten klingelnden Gespräche und Reflexionen über Religion, Philosophie, Psychologie und deren Kulmination im Werke Carl Gustav Jungs, gewollt provokant und folglich auf geradezu lächerliche Weise altbacken wiederum die zahlreichen sexuellen Details, die Moorcock in der Erzählungsfassung zu seinem und unserem Glück ausgespart hatte.

 

Die Nicht-SF-Handlung im 20. Jahrhundert, subtrahiert man Sex und (Pseudo-)Tiefsinn, birgt ansonsten die meisten Qualitäten des Werks. Aufgrund ihrer Krassheit überzeugen die Schilderungen der Demütigungen Karls durch Spielkameraden, Mitschüler und Erwachsene, seines Leidens unter mangelnder Mutterliebe und seiner Trauer um den verlorenen Vater – liegt die Eindringlichkeit dieser „naturalistischen“ Passagen zwar überwiegend im rein Thematischen begründet, so dürfte doch kaum zu bestreiten sein, daß solcherlei Naturalismus sich auf die Dauer als beständiger bestätigen dürfte denn sämtliche Exkurse über Archetypen oder Satinhöschen.

 

Die Episoden in der Vergangenheit sind durch eine funktional begründete Blässe charakterisiert. Moorcock versucht nicht, seinen Lesern in der Manier des populären Historienbestsellers eine fremde Epoche in möglichst satten Technicolorfarben auszumalen – sein Palästina der 30er Jahre (der tatsächlichen, ersten unserer Zeitrechnung!) ist hingegen lediglich verzeichnet, wenn auch keineswegs, wie man im Kindler über das Zeitalter der Inquisition in Victor Hugos „Torquemada“ bemerkte, „in geradezu quälendem und beängstigendem Ausmaß“, sondern eher in einer über weite Strecken im positiven Sinne comicstriphaft unbekümmert anmutenden Art, die stellenweise – etwa, wenn Glogauer bei der Auswahl der Apostel nicht allein das Alte Testament, sondern auch die Zeichen des Tierkreises und Positionen neuzeitlicher Esoterik zur Richtschnur seiner Entscheidungen wählt oder Pilatus angesichts der aufgebrachten Menge „Oh, diese morbiden Fanatiker!“ ausruft – in humoristische Kabinettstückchen mündet, die weniger „Das Leben des Brian“ antizipieren als vielmehr dem Josephsroman ironisch Reverenz erweisen.

 

Überdies stehen dem Autor so keine kleinlichen historischen Details bei der Übermittlung seiner Botschaft im Wege. Gewiß entspricht das Übermitteln einer solchen nur bedingt den Zielsetzungen moderner Literaturtheoreme, aber wenn man schon so etwas macht, sollte man ruhig die Frage nach derselben und ihrem Gewicht stellen dürfen. Was Moorcock uns mitteilen möchte, ist die Erkenntnis, daß man Jesus, wie im Prinzip jede religiöse Erlösergestalt, als Projektion des modernen Menschen anzusehen vermag, der das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit in der Vision eines imaginären Größen-Ichs zu kompensieren trachtet. Das ist schlüssig, aber nicht neu. Innerhalb der Science Fiction war es gewiß neu und originell, in der Literatur des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit hingegen, auch wenn man sich nur auf dessen zweite Hälfte beschränkte, vermag diese Erkenntnis kaum eine Fußnote zu füllen.

 

Als großer Anführer und großer Prophet galt er ihnen, doch während sie glaubten, er führe sie, trieben sie ihn in Wirklichkeit vor sich her.“ – ein Satz aus „Behold the man“, der in jedem von Moorcocks Fantasyzyklen stehen könnte und komprimiert die Dialektik allen Heldentums zusammenfaßt, das für Moorcock letzten Endes stets in Selbstbetrug begründet liegt und auf Betrug hinausläuft. In solchen Überlegungen offenbart sich das auch im trivialsten Stück Moorcockscher Prosa manifeste Reflexionsniveau, das bisweilen Anlaß zu grotesken Überschätzungen zu geben vermag. Im Rahmen eines Fantasyzyklus´ mit allen seinen Redundanzen kann eine solche Stelle als Kulminationspunkt fungieren, in einem qualvoll um Anspruch bemühten Elaborat wie der Romanversion von „Behold the man“ geht sie indes neben viel Belanglosem unter und entfaltet keinerlei Strahlkraft.

 

Der Piperverlag hat mit dieser Neuübersetzung eines vermeintlichen Hauptwerks die erneute Reanimation einer literarhistorisch zwar bedeutsamen und handwerklich geschickten, aber stilistisch anspruchslosen – ist es ein Fortschritt, wenn die Gedichte von Karls Vater nun nicht mehr überladen wirken, sondern hochtrabend klingen? – und gedanklich im Diffusen verebbenden literarischen Durchschnittsware bewerkstelligt. Zu unterhalten vermag diese Taschenbuchausgabe aber rundum – insbesondere aufgrund des Nachworts und des Klappentextes. Während in der alten Ausgabe des Heyne – Verlags in der „Bibliothek der Science Fiction Literatur“ Florian Marzin, der später als „Henker von Rastatt“ Karriere machte und mittlerweile auch als „Henker von Bergisch Gladbach“ für Furore sorgte, in seinem Nachwort die religionskritischen Implikationen des Romans systematisch herausarbeitete, beschränkt sich Carsten Polzin in dem seinen auf das Nachbeten wirkungsvoller Phrasen und munteres Schwadronieren. Man sieht sich hier einem Dokument der Ratlosigkeit gegenüber.

 

Daß Moorcock Besseres geschrieben habe, ist Polzins tiefste Erkenntnis, von welcher noch Generationen von Nachwortschreibern zu zehren vermögen. Trotz mancher nicht näher benannter Schwächen könne das Werk niemanden kalt lassen und wirke noch immer verstörend, kontrovers und provokant. Worin sich diese Wirkung in der Zeit seines Erscheinens gezeigt habe, verschweigt uns Polzin leider – die ältere Sekundärliteratur schweigt sich hierzu zwar auch aus, hat aber im Gegenzug niemals derartiges behauptet. Polzin ergeht sich des weiteren in grundsätzlichen Überlegungen zur Problematik der Zeitreisegeschichte, nur um dann zu dem Schluß zu gelangen, daß es Moorcock gar nicht darum gegangen sei, logische Vexierspiele in der Tradition von Robert A. Heinleins „Door into summer“, „By his bootstraps“ und „All you zombies“ zu konstruieren. Gekrönt werden seine Ausführungen durch Reflexionen zur Frage, wie es sein könne, daß Glogauer im vorliegenden Band gekreuzigt werde, in dem Episodenroman „Breakfast in the Ruins“ aber wieder als Hauptfigur agieren könne, und ob die ganze Geschichte nur auf einer Einbildung beruhe. Über die anderen, „besseren“ Bücher Moorcocks erfährt man lediglich, daß viele von ihnen den „Status zeitloser Meisterwerke“ inne hätten – zumindest bezüglich der Elricromane präzisieren sich die Angaben dahingehend, daß es sich hierbei um moderne Fantasy-Klassiker handle, deren „schöpferische Kraft bis heute unerreicht“ sei.

 

Das Sahnehäubchen hält indes zweifelsohne der Klappentext bereit. Hier erfährt man nämlich, neben den bereits zitierten Geistesblitzen, welche Art von Lesern sich durch dieses Buch besonders angesprochen fühlen sollte: „Ein Muß für alle Fans von „Das Jesus-Video“. Angesichts der Tatsache, daß es im deutschen Sprachraum außerhalb von Spezialperiodika kaum eine fundierte feuilletonistische Auseinandersetzung mit der Science Fiction gab und man diese Fehlentwicklung ab den 1990er Jahren bedauerlicherweise statt mit Besonnenheit lieber mit viel Hurra zu korrigieren bestrebt war, ist die ahistorische Verquickung zweier in ihren Intentionen höchst unterschiedlicher Romane nicht weiter verwunderlich, aber nicht weniger grotesk. Man stelle sich eine Neuausgabe der „Buddenbrooks“ mit dem Vermerk „Für alle Freunde von Tellkamps ´Turm´“ oder eine Neuausgabe der „Strahlungen“ mit dem Appetizer „Das Geschenk für alle Fans von Littells ´Wohlmeinenden´“ vor. Womit man wohl in 40 Jahren einer zukünftigen Leserschaft Eschbach schmackhaft machen wird?

 

Seit den 1960er Jahren liegt ein Großteil des Moorcockschen Schaffens auf Deutsch vor, und bis Mitte der 1980er Jahre konnte man seine literarische Entwicklung praktisch in ihrer vollen Bandbreite auch hierzulande studieren. Wie bei so vielen Fantasy- und SF-Autoren brach jedoch auch seine deutschsprachige Rezeption irgendwann ab oder verengte sich auf einige wenige kommerziell ertragreiche Dauerbrenner. Die von Dietmar Dath gerühmten Colonel Pyat-Romane kamen über eine halbwegs erfolgreiche Übersetzung des ersten Bandes nicht hinaus, die Cornelius-Chroniken und die Legenden vom Ende der Zeit konnten sich nicht halten, Dorian, Corum und Elric behaupteten sich hingegen problemlos, andere Inkarnationen des „Ewigen Helden“ wie der Marskrieger Michael Kane, Captain Oswald Bastables oder John Daker alias Erekose irrlichterten hin und wieder auf. Das literarische Werk Moorcocks ab den 1990er Jahren kennt man in Deutschland fast nur in Form neuerer Elric-Fortsetzungen oder Ergänzungen von Handlungslücken der bereits bekannten Abenteuer. Der Moorcock von „Mother London“, in dem manche Kritiker gar einen zweiten Joyce zu sehen vermeinten, blieb uns bislang Fama.

 

Gänzlich untergegangen sind bei uns seine Einzelromane und Erzählungen – wer die künstlerisch radikalen und vielleicht auch weitgehend geglückten, zumindest geglückteren Werke als „Behold the man“ kennen lernen möchte, ist auf das moderne Antiquariat angewiesen. Erinnert sei an „Der Schwarze Korridor“, eine psychedelische Space Opera, die womöglich Moorcocks gewagtestes „New Wave“ – Experiment repräsentiert und Anfang der 1970er Jahre in der wegen ihrer qualitativen Achterbahnfahrten berüchtigten Reihe „Fischer Orbit“ erschienen ist, an „Die Goldene Barke“ (Goldmann), Moorcocks ersten Fantasy-Roman überhaupt, eine wilde Mischung aus Burroughs (sowohl Edgar Rice, als auch William Seward), Mervyn Peake, Kafka und Brecht, an die Erzählungsbände „Der Zeitbewohner“ (Luchterhand) und „Der Eroberer“ (Ullstein; darin u. a. auch die Novellenfassung von „Behold the man“). Solche Sachen „gehen“ heutzutage nicht mehr, sie „ziehen“ nicht. „Gehen“ und „Ziehen“ tut „Behold the man“, ein letztlich banaler Roman mit berührenden Momenten, der dank seiner Thematik vom Nimbus des Provokanten und Progressiven umwabert ist und dem somit stets ein gewisses Grundinteresse garantiert sein dürfte, der sich jedoch auf lange Sicht vor allem als hemmend auf eine umfassende und unvoreingenommene neue deutschsprachige Moorcockrezeption auswirken dürfte.

 

Michael Moorcock:

I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine

Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Langowski

Mit einem Nachwort von Carsten Polzin

Piper Verlag, München / Zürich 2007

190 Seiten, 7,95 EUR

ISBN: 978-3-492-28618-3

 

Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12861 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.