Über Hans-Joachim Hahns Sammelband "Gerhart Hauptmann und 'die Juden'. Konstellationen und Konstruktionen in Leben und Werk"
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Gerhart Hauptmann zählt nicht zu jenen Autoren der Moderne, bei denen man, wie etwa im Falle Knut Hamsuns, Ezra Pounds oder Louis-Ferdinand Célines, einen Sündenfall mit dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus diagnostiziert. Gleichwohl haftet ihm aufgrund seiner widersprüchlichen Haltung während des Dritten Reichs, auch im Hinblick auf sein hurrapatriotisches Engagement während des Ersten Weltkriegs und ungeachtet seiner sozialkritischen Anfänge, seiner Rolle als "König" der Weimarer Republik, wie ihn Thomas Mann nannte, und seiner späten Vereinnahmung durch den Sozialismus Ulbrichtscher Prägung in manchen Teilen der Forschung der Ruch eines Mitläufers und Reaktionärs an.
Er, der, wie es wiederum Thomas Mann formulierte, durch Juden erhoben und groß gemacht worden war, dessen Stücke unter der Regie jüdischer Regisseure wie Otto Brahm und Max Reinhardt ihre größten Triumphe feierten und in jüdischen Theaterkritikern wie Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn einige ihrer begeistertsten Fürsprecher fanden, befremdete viele der einstigen Freunde und Weggefährten durch seine Unterstützung der Hitlerschen Außenpolitik. Nach seinem Tode wurde sein vereinzeltes Eintreten für jüdische Freunde und andere Gesten des Widerstands (z. B. seine freilich nur im Tagebuch geäußerte Kritik am nationalsozialistischen Rassebegriff) ebenso offenbar wie verschiedene - freiwillig erfolgte oder erzwungene? - Gesten der Anerkennung für das Regime, das ihn nicht mochte, sich seines großen Namens aber gelegentlich als Aushängeschild zu bedienen suchte.
Der vorliegende Sammelband dokumentiert Hauptmanns Beziehungen zu jüdischen Freunden und Förderern und zur Religion des Judentums ebenso wie die Darstellung von Juden in seinen Werken. Er beinhaltet die Beiträge international renommierter Hauptmannforscherinnen und -forscher zu einem Symposium, das vom 18. bis zum 20. Juni 2004 in Gerhart Hauptmanns ehemaligem Wohnsitz, dem Haus Wiesenstein in Jagniatkow (vormals Hirschberg) in Polen anläßlich des 70. Jahrestags der Trauerfeier für Max Pinkus am 19. Juni stattfand, an welcher Hauptmann und seine Frau als einzige nichtjüdische Gäste teilnahmen und die er später in seinem szenischen Requiem "Die Finsternisse" gestaltete. In Anlehnung an Lyotards Essay "Heidegger und 'die Juden''" wurde der Begriff "Juden" bewußt in Anführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, daß es hierbei weniger um wirkliche Menschen jüdischen Glaubens geht, als vielmehr um Projektionen unterschiedlichster Art, die man mit dem Begriff "Juden" verband.
Peter Sprengel beleuchtet in seiner Untersuchung "Grenzen der Immunität: Gerhart Hauptmann, das Judentum und der Antisemitismus" Hauptmanns Auseinandersetzung mit den "Juden" und dem Judentum in seinem Leben und Werk in einem umfassenden Überblick. Er arbeitet heraus, daß Hauptmann sich zeitlebens intensiv mit dem jüdischen Glauben befaßte und in seiner Tragikomödie "Der rote Hahn" antisemitische Vorurteile und Machenschaften gegenüber jüdischen Intellektuellen im Wilhelminischen Kaiserreich explizit thematisierte, sich in anderen Werken aber als anfällig für die antisemitischen Stereotypen seiner Zeit erwies und bedenkenlos mit diesen operierte.
Antje Johanning geht in ihrem Aufsatz "Gerhart Hauptmann - ein Philosemit? Anmerkungen zur Rezeption Gerhart Hauptmanns und seinem Verhältnis zum Judentum" der Frage nach, inwiefern sich Hauptmanns Haltung mit dem problematischen Begriff des Philosemitischen adäquat beschreiben lasse. Beginnend mit einer eingehenden Erörterung der Definition des Philosemitismusbegriffs, zeichnet die Autorin verschiedene Debatten der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Frage nach, ob Hauptmann Anti- oder Philosemit gewesen sei, und analysiert schließlich einen Text, der den Verteidigern Hauptmanns als einer der entscheidenden Belege seiner projüdischen Gesinnung gilt, nämlich das in der Erstausgabe von Joseph Chapiros "Gespräche mit Gerhart Hauptmann" nicht enthaltene, sondern erst posthum veröffentlichte Kapitel "Juden - ein romantischer Begriff". Dabei stellt sie heraus, daß dieses Gespräch, das ohnehin nur bedingt dokumentarischen Charakter für sich beanspruchen kann und mehr Chapiros Hauptmannbild als Hauptmanns Stellung zum Judentum widerspiegelt, letztlich nur Klischeevorstellungen vom Judentum mit freilich positiver Konnotation abhandle und somit auch nur bedingt Beweiskraft pro oder contra Hauptmann besäße.
Der Herausgeber des Bands, Hans-Joachim Hahn, widmet seinen Beitrag Hauptmanns szenischem Requiem "Die Finsternisse" von 1937, einem anderen entscheidenden Beleg für Hauptmanns projüdische Gesinnung, worin der Dichter die Eindrücke von der Totenfeier seines Freundes, des jüdischen Industriellen und engagierten Förderers schlesischer Kultur, Max Pinkus, verarbeitete. Dieses Werk, dessen Manuskript Hauptmann aus Angst vor einer Gestapodurchsuchung 1942 vernichten wollte, das aber in Form einer Abschrift ohne sein Wissen überlebte und 1947 veröffentlicht werden konnte, gibt die Gespräche des Dichters von Herdberg, eines Selbstporträts Hauptmanns, mit den jüdischen Freunden und den nichtjüdischen Bediensteten des verstorbenen Kommerzienrates Joel über die politische Situation der Zeit wider.
Hahn verdeutlicht durch seine Untersuchung, daß Hauptmanns Versuch, das Zeitgeschehen in einen umfassenderen (geschichts-) metaphysischen Zusammenhang zu stellen, die politischen Implikationen des Stoffs nahezu völlig neutralisiere. Das NS-Regime und seine antisemitische Politik werden so zur Naturgewalt stilisiert, der nicht beizukommen sei. Hauptmanns konsequente Verknüpfung der Situation der Juden in Nazideutschland wie der Gesamtheit des Judentums überhaupt mit der Figur Ahasvers, des "ewigen Juden", sei überdies noch zusätzlich problematisch, da die Figur Ahasvers nicht dem jüdischen Selbstverständnis entspricht, sondern ursprünglich antijüdischen Traditionen der christlichen Überlieferung entstammt und auf diese Weise auch eine zumindest tendenziell antisemitische Lesart des Textes erlaube. Hauptmann, so Hahn, habe mit den "Finsternissen" unfreiwillig das Paradox bewerkstelligt, eine antinazistische Dichtung verfaßt zu haben, die gleichwohl antijüdisch sei.
Die anderen Beiträge widmen sich vorwiegend biografischen Konstellationen. Arkadiusz Baron zeichnet "Die Herkunft und Jugend von Max Pinkus" nach, Dieter Heimböckel zeigt in seinem Aufsatz "Muster-Freundschaft: Gerhart Hauptmann und Walther Rathenau" auf, daß der vielstrapazierte Begriff der Musterfreundschaft zwischen dem Dichter und dem Politiker einer Revision bedarf, da es sich auch hier vielfach nur um beiderseitige Projektionen gehandelt habe. Anna Stroka schildert in ihrem Beitrag "Gerhart Hauptmanns Beziehung zu Samuel Fischer und seinem Verlag", während Deborah Vietor-Engländer die wechselvolle und zum Schluß in bittere Feindschaft mündende Beziehung zwischen "Gerhart Hauptmann und Alfred Kerr" aufarbeitet. Kerr hatte mit seinem Artikel "Gerhart Hauptmanns Schande" im Herbst 1933 die entschiedenste Abrechnung mit dem Dichter der "Weber" von Emigrantenseite aus artikuliert, ein Dokument eines gebrochenen Herzens, von stellenweise alttestamentlicher Wucht. Kerrs Enttäuschung über Hauptmanns Verhalten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ließ seine freundschaftlichen Gefühle für Hauptmann ersterben. Hauptmann wiederum zeigte in seinen Tagebuchnotizen keinerlei Verständnis für Kerr und äußerte auf ihn bezogen nur noch antisemitische Klischees. Eine Darstellung der Hauptmannverehrung des jüdischen Arztehepaars Albert und Toni Neisser von Albrecht Scholz beschließt den Band.
Ein Buch, das auf detaillierte Weise die in diesem Falle erschreckende Widersprüchlichkeit Gerhart Hauptmanns offenlegt, eines Dichters der Humanität, der, wie Alfred Kerr 1944 meinte, später nur noch der Canaille schmeichelte, der sich in seinen Tagebüchern einerseits bestürzt über die Einführung des Judensterns zeigte, andererseits aber notierte, er müsse "diese sentimentale 'Judenfrage''" für sich ganz und gar abtun, da es um größere Dinge gehe. Eine endgültige Antwort kann es nicht bereithalten, wohl aber eine große Anzahl von Fakten, die jedem, der sich mit Hauptmann befasst, zumindest eine eigene Antwort zu finden ermöglichen.
Hans-Joachim Hahn (Hg.): Gerhart Hauptmann und die Juden. Konstellationen und Konstruktionen in Leben und Werk.
Neisse Verlag, Görlitz 2005.
171 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN 3934038409
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9421&ausgabe=200606 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.