Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht, bei Rowohlt Berlin, Teil 4/6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die US-Fernssehserie HOLOCAUST - FAMILIE WEISS, ARD Januar 1979,  war sehr wichtig für die Fortsetzung der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit Altnazis und dem NS-Unrecht. Aber sie 30 Jahre nach Kriegsende als den Beginn einer Antinazibewegung zu stilisieren, ist empörend.


Dies unterschlägt nicht nur den Kampf der Antifaschisten seit Bestehen der Bundesrepublik, sondern unterschlägt auch die wichtigen Stationen, die immerhin hin zu einer demokratischen Bundesrepublik, die mit den Nazis abrechnet, führten. Weder der Remerprozeß von 1952, wo das Braunschweiger Landesgericht den NS-Staat als Unrechtsstaat brandmarkte,  noch der Auschwitzprozeß von 1963-65, der medial die Bundesrepublik veränderte, - wenn auch die verhängten Strafen zu gering ausfielen, aber es gab Urteile! -  sind der Autorin eine Erwähnung wert. Den einen führte, den anderen veranlaßte Fritz Bauer, erst Generalstaatsanwalt von Braunschweig, dann Hessischer Generalstaatsanwalt. Nachdem schon die damalige Bundesrepublik eine so honorige Figur wie Fritz Bauer (1903-1968) , - ein Sozialdemokrat der ersten Stunde, 1933 als Sozialdemokrat eingebuchtet und 1936 als politischer Flüchtling nach Dänemark und Schweden geflohen und 1949 in die BRD zurückgekehrt -  als quantité négligeable betrachtet, tut es einfach weh, daß die Autorin weder Bauer, noch die von ihm beeinflußte Studentenbewegung überhaupt erwähnt. Denn spätestens mit dieser war das Thema der meisten in den Nationalsozialismus verstrickten Eltern der Studentengeneration von 1968 überall gesellschaftlich auf dem Tisch, wenn auch noch nicht gegessen.

Aber völlig unvermittelt  setzt die Autorin mit der Ausstrahlung der US-Fernsehserie der Familie  Weiss 1979 (verdienstvoll, weil Emotionen hervorrufend, die innere Blockaden lösten) die Beschreibung der Bundesrepublik der Fünfziger Jahre Ende der Siebziger fort – was ist überhaupt mit der DDR, die auch zu Deutschland und den Deutschen gehört ?- , woraufhin von ihr als nächster Schritt der NS-Aufarbeitung der Deutschen das Urteil im Fall Demjanjuk herhalten muß. Das Urteil gegen ihn erfolgte im Jahr 2011!!

In solchen Siebenmeilenstiefeln, nämlich 30-Jahre-Abständen, ist natürlich kein Raum für eine zutreffende Analyse der bundesdeutschen Gesellschaft. Dies ist aber die Voraussetzung, um über das Heute reden zu können. Das ist nachgerade peinlich, wie stümperhaft und dann auch selbstgerecht die Autorin mit der Frage der erst mehr als zögerlichen , dann aber nicht mehr aufzuhaltenden Aufarbeitung der NS-Zeit umgeht. Die ist noch lange nicht zu Ende, aber immerhin ernsthafter, ja wahrhaftiger als sie in Spanien, Chile oder der Türkei vorgenommen wird. Wenn sie selbst darüber nichts weiß, ist es mehr als selbstgerecht, anderen Deutschen ihr Nichtwissen vorzuwerfen.

Durchgehend ist das Geschichtsverständnis der Autorin nicht nur wirr, sondern schlicht falsch, mal ganz abgesehen davon, daß in der Geschichte Deutschlands nur Westdeutschland vorkommt. Man kann unmöglich alle leichtfertig vorgebrachten Fakten hier korrigieren, wenn wir wie in der Klippschule, einen Husarenritt durch europäische Geschichte verfolgen. Aber allein die Aussagen über die Renaissance sind derart hanebüchen, daß man sich fragt, wie das Lektorat eines so renommierten Verlages wie Rowohlt Berlin dies der Autorin hat durchgehen lassen.

Höhepunkt der Geschichtsverfälschung sind dann die Aussagen zur Renaissance auf Seite 238: „Die Zutaten für die Renaissance und die Rezepturen dazu haben wir bekanntlich von den Arabern, Persern und Osmanen erhalten.“, steht dort wortwörtlich. Das ist ja lachhaft. Die Renaissance ist, wie ihre Benennung sagt, die Wiedergeburt der Antike und wird nicht durch die Osmanen konstituiert, sondern just durch deren Widerpart, den im Sieg der Osmanen 1453 über Konstantinopel  unterlegenen Byzantinern mitsamt der christlichen griechisch-orthodoxen Kirche, beispielhaft Kardinal Basilius Bessarion (1403-1472), der schon früh nach Italien gekommen, derjenige ist, in dessen Gepäck die original griechische Literatur seit der Antike nun nach der Erfindung des Buchdrucks nicht nur für Eingeweihte übersetzt wurde, sondern durch den Drucker Aldus Manutius in die Welt ging und das fundierte, was man Humanismus nennt, was zur Renaissance führte.

Daß zu anderen Zeiten, nämlich sehr viel früher, arabische Literatur und Wissenschaften (Zahlen, Medizin)  Europa unendlich bereicherten, steht leider in diesem Buch nicht. Eben auch nicht, daß sich Kulturen immer das einverleiben, was in die Gemengelage der Entwicklung von Völkern paßt. In diesem Buch aber soll dauernd gewissermaßen gewaltsam etwas bewiesen werden. Aber was? Aus allen Bereichen sammelt die Autorin Belegstellen, die aneinandergereiht so etwas wie eine andere gesellschaftliche Akzeptanz von Syrien und Türken, mit „das Fremde bezeichnet“, beweisen sollen, was aber immer daran scheitern, daß additiv und nicht analytisch Schlüsse gezogen werden und jedesmal von Neuem sich das mangelnde Verständnis der Autorin für historische Zusammenhänge offenbart. Sie addiert Plattitüden, Vorurteile.

Und wenn wir dachten, wir seien in unserer Analyse dieses Buches zum Schluß gelangt, dann kommt ein neuer Hammer. In dem Kapitel WAS IST DEUTSCH? - da gab es vor längerer Zeit eine hinreißende Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (ja, es darf auch heute so heißen), in der auch ein „Wir“ Platz hatte. Nämlich die Titelseite der Bildzeitung vom 29. April 2005 als es hieß: „Wir sind Papst!“. Übrigens genauso wie 'Wir' später Fußballweltmeister wurden und es zuvor schon mehr als einmal waren. Genau genommen viermal: 1954, 1974, 1990 und 2014. Warum das wichtig ist? Weil beide Ereignisse Papstwahl eines Deutschen, Weltmeister im Fußball zu Deutschland gehören und zum Komplex: Was ist deutsch? Ob ich nun Fußball leiden kann oder nicht. Ob ich katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch bin oder an gar keinen Gott glaube.
Fortsetzung folgt

 

Foto: Im Bild Fritz Bauer, Hessischer Generalstaatsanwalt, der u.a. den Auschwitzprozeß in Gang setzte und ein Beispiel dafür ist, wie stark Deutsche, auch gegen Widerstand nationalsozialistischen Terror vor Gericht holten. Damals bekämpft, heute von der Autorin wie alle anderen nicht zur Kenntnis genommen. (c) CV Films



Info:
Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe
Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht
Originalausgabe, 240 Seiten
€ 16,99 (D)/ € 17,50 (AT)
ISBN: 978-3-87134-836-5
Erstverkaufstag 21. September 2016