Die sechs Finalisten. Deutscher Buchpreis 2016, Teil 16

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Als ob sie fast zwanzig Jahre lang die Leute beobachtet hat, denkt man sich, wenn man die auf 209 Seiten versammelten insgesamt 38 kurzen Texte studiert. Deshalb 'studiert', weil man diese knappen Sätze, die Welten in sich tragen, nicht herunterlesen kann – wie einen Schmöker beispielsweise.


Und weil man so oft das Buch beiseitelegen muß und es dann total neugierig wieder in die Hand nimmt, kann man auch seine eigenen Lesegewohnheiten oder noch besser Lebensgewohnheiten an sich studieren. Schon wieder der Begriff des Studierens. Aber das hat mit der Art der Wahrnehmung zu tun, zu der uns Eva Schmidt zwingt. Man muß nicht nur langsam, praktisch Wort fpür Wort lesen, sondern sucht sich wie in der Fremde Haltepunkte zum Orientieren. Denn die kurzen Texte – nein, es sind eben keine richtigen Geschichten, sie fangen an und hören irgendwo auf, setzen später fort – erfordern vom Leser eine wahrliche Detektivarbeit, wenn er denn wissen will, wie das alles zusammenhängt.

Und dabei machten wir uns über uns selber lustig. So, wie man in bestimmten öffentlichen Räumen, die man immer wieder aufsucht, wir zu den Exemplaren – der Mehrheit übrigens – gehören, die den alten Platz wieder einnehmen wollen, wo das Besetzen wohl idirekt mit dem Besitzen im wahrsten Sinne des Wortes, mit Vertrautem, mit Dazugehören zu tun hat, genauso wollten wir in den Geschichten unbedingt den einzelnen Personen in ihren Beziehungen zu den anderen Porträtierten folgen können.

Und das macht einem die Autorin – und darin besteht das Bestechende dieser Prosa – nicht leicht. Erst einmal aus formalen Gründen. Da wird in der dritten Person erzählt und es beginnt fast immer mit einem 'er' und einem 'sie'. Ja, aber wer verbirgt sich dahinter? Liest man genau, dann weiß man auch ohne Namensnennung schnell, um wen es sich handeln muß, weil Bezugspersonen oder Hunde oder bestimmtes Verhalten eine Rolle spielen.

Ja, die Hunde. Wo bleiben bloß die Katzen, dachte ich immer wieder. Aber die wären für die geschilderten Menschen, die isoliert oder in netzartigen Beziehungen über diese Wohnbehausungen am Wasser verteilt sind, viel zu unternehmungslustig, zu verspielt und zu frei. Stimmt schon, zu diesen Menschen passen die Hunde, ob sie nun Albuquerque – im Buch geht es  wirklich darum, daß er von dort, der größten Stadt in New Mexico, in die Siedlung am See als Souvenir mitgebracht wird, wobei das österreichische Exil sein Leben rettete – oder Hem nach Hemingway heißen. Die Vereinigten Staaten spielen dann doch eine größere Hintergrundrolle. Denn auch die eine Tochter kommt zur Beerdigung der Mutter aus den USA nach Hause.

Hier leben die Menschen, hier sterben sie, nur diesmal wird zur Erhaltung der Population  keiner – wie im Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker - zum Ausgleich auch geboren. Aber es war ja auch nur ein Jahr, indem wir die Schicksale verfolgten, ein langes Jahr.




Kommentar der Jury

19 Jahre hat die mehrfach ausgezeichnete, in Bregenz lebende Schriftstellerin kein Buch veröffentlicht. Und nun legt sie diesen schmalen Roman vor. In 38 Episoden erzählt sie aus wechselnden Perspektiven von Bewohnern ihrer Stadt. Es sind Kinder, Alte, alleinstehende Frauen, ein Obdachloser. Beziehungen zwischen diesen Figuren bahnen sich an und kommen nur zart oder dann doch nicht zustande, Pläne werden nicht ausgeführt oder scheitern, alles geschieht hier leise und immer wieder glitzert der Bodensee dazwischen. Die Sprache ist zurückhaltend, kein Wort ist zu viel. Der melancholische Text erfordert Aufmerksamkeit, wofür man als Leser jedoch reich belohnt wird.