KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Dezember 2016, Teil 1

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Ja, es gibt auch eine Nummer 1. Die ist so neu auf der Liste wie die Nummer zwei. Aber MISS TERRY von Liza Cody haben wir noch nicht gelesen, weshalb wir direkt mit Platz 2 einsteigen.


Und bei BOGMAIL hat man erst einmal soviel zu erzählen, daß man aufpassen muß, noch zur Geschichte zu kommen. Es ist einfach auffällig, wie der Titel in einem falsche Assoziationen an das Heute weckt. Dabei hat der irische Geschichtenerzähler Patrick McGinley seinen Roman schon 1978 mit dem gleichen Titel veröffentlicht. Und natürlich geht es nicht ums Mailen oder Emailen, sondern um Briefchen, mit denen ein Mitwisser dem Kneipenwirt Roarty kundtut, daß er ihn beobachtet hat, dort im Moor beim Mord, bzw. beim Versenken des Ermordeten. Und was haben will, soll das nicht bekannt werden.

Doch das schreckt Roarty nicht mal besonders und den Leser auch nicht, denn den ersten Mordversuch an Eamonn Eales unternimmt unser Hauptheld der Geschichte immerhin schon in der zweiten Zeile. Und Schritt für Schritt gelingt es dem Autor in dieser kleinen Ortschaft Donegal mit zwei Kneipen am Ortsanfang und Ortsende, reziprok, je nachdem aus welcher Richtung einer kommt, unser sonstiges Gefüge von Recht und Unrecht irgendwie auszuhebeln und einen neuen Wertemaßstab zu errichten, in dem Todsünden sich dann ereignen, wenn jemand für einen Sachverhalt, ein Gefühl, nicht die adäquate sprachliche Ausdruckskraft findet. Kopf ab.

Stellen wir also die Kneipengänger näher vor. Besitzer Roarty, den gibt’s hier schon immer. Ein umgänglicher Mann, eben ein typischer Wirt, dessen beste Eigenschaft zudem seine Trinkfähigkeit ist, denn das ist nicht einer, der die anderen trinken läßt und dann abkassiert, nein, er selber trinkt mit, weshalb er auch nicht reich werden wird, aber sein gutes Auskommen hat. Bis seine Kellnerin gehen mußte. Genau, damit finden die Malaisen an. Denn da stand diese Eales vor dem Tresen, sagte, er brauche wohl jemanden für die Kneipe und daß er genau der Richtige sei. Mit dem Sold und dem Zimmer oben war er auch zufrieden.

In seinen unentwegten Selbstgesprächen, an denen wir teilhaben, stellt Roarty klar, daß er sich mitschuldig fühlt an dem, was Eagles da treibt. Schon mit den Katzen Allegro und Andante als Mitbewohner hätte er sich nicht einverstanden erklären dürfen, denn die richtet Eales auf die Singvögel ab, aber viel schlimmer ist, daß da irgendwas mit seiner Tochter läuft. Die lebt zwar in London, aber er hat bei Eagles einen Brief von ihr gefunden. Da steht wortwörtlich drinnen: „Immer wieder muß ich an den Abend unter der Minister's Bridge denken und an die seltsamen Dinge, die du mit mir angestellt hast.“ Seine Tochter ist ihm heilig, wie jedem männlichen Iren und den meisten Vätern der Welt. Und machen wir es kurz. Das war's gewesen für Eales. Er ist einfach aus der Welt, mitsamt seinen Sachen im Moor versenkt. Und das  Moor gibt nichts mehr her.

Wenn da bloß nicht der abgehackte Fuß aufgetaucht wäre. Der gibt Sergeant McGing nun den richtigen Schwung, den Mörder zu fassen. Hat er sich doch so lange danach gesehnt , einen hiesigen Moriarty zu fassen. Man glaubt es nicht. Denn den gegenwärtigen Sherlock Holmes und Moriarty-Hype hatte man auf das Heute bezogen, nimmt aber wahr, daß es auch 1978 tief in solch einem irischen Bluthund steckt. Mit dem McGing wird Roarty noch seine Last haben. Aber welche Rolle der Journalist spielt, dieser Gimp Gillespie, das weiß Roarty auch nicht und lästigerweise bleiben wir ständig auf seinem Wissensniveau, statt von oben oder von unten auf die ganze Szenerie schauen zu können. Ein ganz eigener Ton, der in einem bleibt.

Über Patrick McGinley, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen deutsch-irischen Autor und Regisseur Jahrgang 1977, sind die verfügbaren Daten rar, schreibt Tobias Gohlis McGinley wurde 1937 in Glencolmcille, Donegal, geboren, arbeitete als Lehrer, übersiedelte nach Kent, wo er als Autor und Verleger tätig ist. Bogmail, 1978 erstmals und 2013 erneut in der Reihe Modern Irish Classics veröffentlicht, ist sein spätes, aufregendes Debüt auf dem deutschen Markt.

Zusammenfassung: Ex-Priester und Kneipier Roarty hat seinen Kellner erschlagen, im Moor verbuddelt und fühlt sich besser, der Mord scheint perfekt. Doch dann erhält  er Bogmails (ein Neologismus aus bog = Moor und blackmail = Erpressung). Der bisher friedliche Zusammenhalt gebildeter oder gehobener Schätzer an seinem Tresen verwandelt sich in einen Hobbes’schen Krieg aller gegen alle, verschärft durch Streitereien um Religion, Ritus, Grundstücke und den englisch-irischen Konflikt. Der aber gleichzeitig im traulichen Gespräch whiskey-liebender Männer auch wieder in Phasen des Waffenstillstands umschlägt.

„Eine Perle“ habe der Steidl-Verlag mit diesem Text ausgegraben, schwärmt Sylvia Staude. Und hat eine reizvolle Revision der Paratexte vorgenommen. Statt „Kriminalroman“ nennt der Verlag Bogmail einen „Roman mit Mörder“ – Vorbild für alle Klappentexter, die literarische Qualität vorstellen möchten. Fortsetzung folgt.

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Dezember 2016

 

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(-)

Liza Cody: Miss Terry

Aus dem Englischen von Grundmann&Laudan

Ariadne im Argumentverlag, 284 S. 17,00 €

London. Als im Müllcontainer die Leiche eines dunkelhäutigen Neugeborenen gefunden wird, bekommt die brave Lehrerin Nita Tehri den weißen britischen Überlegenheitsdünkel zu spüren: Sie hat dunkle Haut und muss die Mörderin sein. Nitas Glaube an Integration durch Anpassung zerbröselt. Sie lernt sich zu wehren. Famos.

2

2

(-)

Patrick McGinley: Bogmail

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Steidl, 344 S., 24,00 €

Glenkeel, Donegal. Von Sinn und Nutzen des Mordens handelt dieser quicklebendige Roman von 1978. Kneipier Roarty hat seinen Barkeeper erschlagen und im Moor versenkt. Jetzt drohen ihm anonyme Briefe mit Enthüllung. Vergnüglich: Whiskey-gestärkte Männer im englisch-irischen Gesprächskampf. Sex und Feinsinn: eine Wonne.

3

3

(2)

Malla Nunn: Zeit der Finsternis

Aus dem Englischen von Laudan&Szelinski

Ariadne bei Argument, 304 S., 13,00 €

Johannesburg 1953. Ein Lehrerpaar, das schwarze Jugendliche gefördert hat, wird überfallen, eine Prostituierte gekidnappt. Drei Polizisten-Väter – weiß, schwarz, „als weiß durchgehend“ - kämpfen für ihre Familien: mit- und gegeneinander, voller List und Gewalt. Band 5 der Emmanuel-Cooper-Reihe. Ungelogen großartig.

4

4

(1)

Franz Dobler: Ein Schlag ins Gesicht

Tropen, 366 S., 19,95 €

München. Fallner ist Ex-Bulle, Ex-Ehemann, Ex-Bahnfahrer. Was nun? Bruder Hansen setzt ihn als Privatdetektiv auf eine Ex-68er-Schmuddelfilm-Darstellerin an, die einen Stalker an der Backe hat. DJ Dobler hat tarantinomäßig klasse gemixt: Filmzitate, Blondie-Tracks, Alltagssprache. Viel Prügel, wenig Blut. Spezial-Dobler-Sound.

4

5

(4)

Peter Temple: Die Schuld vergangener Tage

Aus dem Englischen von Hans M. Herzog

Penguin, 336 S., 10,00 €

Melbourne und Umgebung. Der alte Ned wurde erhängt. Mac Faraday, nach einem Undercover-Leben als Drogenfahnder Schmied und Gartengestalter, bohrt herum. Wühlt Schmutz auf: Verbrecher fest verankert unter Politikern, Polizisten, upper ten. Anständige gegen fiese Kerle, mitreißend erzählt. Australiens Meister.

6

6

(5)

Matthias Wittekindt: Der Unfall in der Rue Bisson

Edition Nautilus, 224 S., 16,00 €

Fleurville“. Ein Autounfall bei Regen und Nebel, ein toter Mann. Irgendwas ist nicht geheuer. Seine Clique, arrivierte Freizeit-Mittelschicht, tarnt, täuscht, forscht: „Schuld am Tod eines Menschen, das ist erstmal nur ein Gefühl, das muss noch lange kein Straftatbestand sein.“ Moralische Zwischenzonen, feinstens erfasst.

7

7

(-)

Ian McEwan: Nusschale

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Diogenes, 278 S., 22,00 €

Gebärmutter, London. Ein Hamlet, ein Sherlock im achten Monat, ein literarischer Beweis für des Fötus‘ Fähigkeit zu Deduktion: der Icherzähler. Handlungsunfähig und superschlau erschließt er sich das Mordkomplott seiner Erzeugerin und ihres Buhlen gegen seinen Vater. Großer Spaß über Freiheit, Leben und Ermittlungen in uneigener Sache.

8

8

(3)

Giancarlo de Cataldo/Carlo Bonini: Die Nacht von Rom

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Folio, 320 S., 24,00 €

Rom. Papst Franziskus hat ein Heiliges Jahr ausgerufen. Kleriker, Immobilienhaie, Politiker, Bauunternehmer krabbeln wie Küchenschaben: Profit, Macht, Schwindel sind zu haben. Im Background der Kampf zweier Mafiosi um eine Frau und um Rom. Mafia capitale, zweiter Akt, famos illuminiert von zwei Insidern.

9

9

(-)

 

Christian von Ditfurth: Zwei Sekunden

Carl’s Books, 464 S., 14,99 €

Berlin, Rømø. Innere Sicherheit im Stresstest: Putin und Merkel sind einem Attentat knapp entkommen, Minister und Bürokraten werden wie die Fliegen umgebracht. Deutsche, Russen, Geheimdienstapparate in gegenseitiger Blockade. Nur Eugen de Bodt, frech und frei, schafft, was getan werden muss. Böser Thriller, scharfe Satire.

10

10

(7)

 

Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt

Suhrkamp, 223 S., 20,00 €

Heiligsheim“. Das Opfer ist unerkannt zurück im Dorf. Ludwig Dragomir war einer der Jungen, die in den Wald hinterm Koglfeld mitgenommen wurden. Jetzt stellt er die Herren von damals mit seiner Scham. Ein Icherzähler mit zerstörtem Ich, sein Ziel: Vernichtung. Gratwanderung im Seelenland der Missbrauchsopfer.

 



INFO:
 
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Dezember wird am 1. Dezember 2016 in der Wochenzeitung DIE ZEIT, auf ZEITonline unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste und im Nordwestradio veröffentlicht, am Donnerstag, den 1. Dezember 2016  gegen 9.20 live mit Tobias Gohlis und in den Sendungen der „Buchpiloten“, nachzuhören unter
www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/bestenliste100.html
 
Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
 
 
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
1
Tobias Gohlis
Hamburg
Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
2
Volker Albers
Hamburg
Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
3
Andreas Ammer
Berg
„Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
4
Gunter Blank
Conil
Sonntagszeitung Zürich
5
Thekla Dannenberg
Berlin
Perlentaucher
6
Fritz Göttler
München
Süddeutsche Zeitung
7
Jutta Günther  
Nordwestradio/Radio Bremen
Bremen
8
Sonja Hartl
Zeilenkino.de, Polar Noir
9
Hannes Hintermeier
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurt am Main
10
Lore Kleinert
Bremen
Freie Kritikerin
11
Elmar Krekeler
BERLIN
Die Welt
12
Kolja Mensing
Berlin
Dradio Kultur
13
Marcus Müntefering
Spiegel Online, Krimi-Welt.de
Hamburg
14
Ulrich Noller
Köln
Deutsche Welle, WDR, DeKrPr
15
Frank Rumpel
SWR 2, frankrumpel.wordpress.com
Tübingen
16
Jan Christian Schmidt
Berlin
www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
17
Guido Schulenberg
Nordwestradio/Radio Bremen
Bremen
18
Margarete v. Schwarzkopf
Köln
Literaturkritikerin
19
Ingeborg Sperl
Wien
Der Standard
20
Sylvia Staude
Frankfurt/Main
Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
21
Jochen Vogt
Kleinich
NRZ, WAZ

*DeKrPr = Mitglied der Jury des Deutschen KrimiPreises

 
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.

Das Prozedere der Platzverteilung  für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten. Noch im Dezember 2016 kommt die Erfolgsliste für dieses Jahr heraus, die wir dann ebenfalls kommentieren.



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