Interview mit Gary Victor am 22. März  in Frankfurt zu SUFF UND SÜHNE und Haiti, Teil 1/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-prince, gehört zu den meistgelesenen Gegenwartsautoren Haitis. Nach seinen Erfolgen in Deutschland mit SCHWEINEZEITEN und SORO, die beide auf der KrimiBestenListe standen, folgt nun sein dritter Roman um den legendären Inspektor Dieuswalwe Azémar.



Sie sind heute in Frankfurt und die Lesereise führt sie einschließlich von vier Stationen in Österreich vom 20. März in Trier bis zum 7. April in Eschborn bei Frankfurt durch Deutschland. Waren Sie schon einmal hier?

Das ist mein zweiter Besuch in Deutschland. Der erste war allerdings schon vor dem Mauerbau.




Um so besser, denn dann schließt sich die Frage an, hat sich etwas verändert und was?

Ich habe seit meiner Ankunft noch nicht viel gesehen. Aber ich weiß natürlich, daß sich enorm viel verändert hat und hoffe sehr, daß ich das Leben außerhalb der Lesungen mitbekommen werde.




Ich war das letzte Mal 1979 auf Haiti, noch zu Zeiten des Baby Doc Duvalier. Da waren Sie 21 Jahre. Was ist seitdem passiert? Was haben die Bewohner erlebt? Wie leben sie heute in Haiti, das einst das reichste Land der französischen Kolonien war,
1995 das Mandat der UNO und den Abzug des ehemalige Priesters und Diktators Aristide erlebte?

Das ist lange her, daß Haiti die reichste französische Kolonie war. Heute hat Haiti damit zu kämpfen, wie man der Entwaldung, der Arbeitslosigkeit und der schlechten Verwaltung Herr wird, sie verändert.  Die Landwirtschaft wurde durch die Konkurrenz von Importreis aus Amerika, aus den USA ruiniert und die ultraliberale Politik hat zerstört, was von der haitianischen Wirtschaft übrig war.



Aber, wo ist da noch Hoffnung?

Ein Volk hat immer Hoffnung und es sind auch Fortschritte erzielt worden. Beispielsweise gab es unter Baby Doc keine Meinungsfreiheit, es gab keine Vereinigungsfreiheit. Heute haben wir die Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit und die politischen Parteien funktionieren. Die Haitianer haben nach wie vor einen großen Unternehmergeist. Auch wenn sie keine staatlichen Hilfen bekommen, jeder Haitianer möchte Unternehmer sein, es gibt jede Menge kleine Geschäfte. Es ist ein Volk, das sich organisiert und daß trotz seiner prekären Lage lebt.



Ihr Inspektor Dieuswalwe Azémar „selbsternannter oberster Richter  in einem Land..“(S. 8), ein „echter Bulle (S. 9), dem viele Selbstbeschreibungen folgen ist, ist zynisch, aber moralisch, auf jeden Fall unbestechlich, also alles das, was normalerweise die Polizei in Haiti nicht ist?

Es gibt viele haitianischen Polizisten, die sicher gerne echte Bullen wären und es gibt welche, die ihren Beruf sehr hoch halten und ihn aufopferungsvoll ausüben. Die Korruption betrifft alle Bereiche der haitianischen Gesellschaft, das ist normal in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit und Armut herrschen und ich habe  die Figur des  Dieuswalwe Azémar geschaffen, um gewisse Probleme behandeln zu können, eben die Probleme der Korruption, der Gewalt und der schlechten Verwaltung.

Das ist das ganze Problem, ehrlich zu bleiben in einer Gesellschaft, in der die Armut dermaßen drängend ist. Was mir an der Figur Azémar gefällt, ist, daß er ehrlich ist, aber nicht stolz darauf, ehrlich zu sein. Denn er stellt seine Ehrlichkeit auch in Frage, er sieht ja, wie ehrliche Leute keinen Erfolg haben und wie den Unehrlichen alles gelingt. Es gibt viele ehrliche Leute in Haiti, die große Anstrengungen unternehmen, diese Frage von sich fernzuhalten: ist es wirklich gut, ehrlich zu sein.


 

Er ist das Gegenteil von selbstgerecht?!

Ja, er ist nicht selbstgerecht, er hat ständig Zweifel und muß sich geradezu mit Gewalt zwingen, auf dem geraden Weg zu bleiben.




Aber manchmal erinnern mich die Selbstgespräche und Selbstvorwürfe des Inspektors eher an eine Frau, weil Frauen auch immer alles als ihre Schuld begreifen.

Anhaltendes Lachen




Gut, ich mache mal weiter: Auf jeden Fall ist er gut erfunden, der Kommissar, denn er hat in der globalen Krimiwelt eine sehr eigene Stimme, die an den amerikanischen Krimi der 30/40er Jahre erinnert. Ihr Vorbild? Philip Marlowe und ?

Ich habe kein wirkliches Vorbild, aber ich mag Figuren, die innerlich zerrissen sind und die ständig Zweifel haben, so wie ich auch. Selbst in einem Land wie Haiti gibt es zu viele Leute mit festgefügten Gewißheiten. Gewißheiten religiöser Art, aber auch in der Unehrlichkeit und der Korruption.




Was ist mit seinem Alkoholkonsum? Ist die Welt nur im Suff zu ertragen. „Das Leben in diesem Land ist eine Halluzination  im Endstadium“ (S. 8) Tu's für Deine Tochter...tu's für Deinen Vorgesetzten, um ihn zu ärgern..
Woher haben Sie solche Kenntnisse über Delirien? Phantasie oder Erfahrung? Die Spinne auf Seite 1 ff, die Tarantel erschreckt ja sogar den Leser…

(Lachen) Ja, ich habe Freunde gehabt, die alkoholabhängig waren und einer, der auch an der Sucht gestorben ist. Ich habe ihn in dem Zustand des alkoholischen Deliriums erlebt. Indem ich Inspektor Azéma in diese Situation (Zustand) des Entzugs versetze mit den Delirien, kann ich sein Unterbewußtsein ausloten. Er ist innerlich zerrissen, er ist gerecht, aber nicht stolz darauf und einerseits sagt er sich, er sei der oberste Richter und tötet, aber andererseits ist ihm klar, daß er das nicht darf. Er liebt sein Land, aber er liebt nicht das Land, das er sieht.
Fortsetzung folgt



Foto:  © Aida Roumer


Info: Gary Victor, Schuld und Sühne,  160 Seiten, Aus dem Französischen von Peter Trier, Verlag Litradukt 2017 ISBN: 978-3-940435-20-0

 

Die Lesereise findet derzeit statt: https://weltexpresso.de/index.php/buecher/9540-gary-victor-suff-und-suehne

noch Termine in:

1. April: Bremen
3. April: Berlin
4. April: Hannover
5. April: Dresden
6. April: Magdeburg
7. April: Eschborn




Autorenportrait des Verlages

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Außer Romanen, Erzählungen und Theaterstücken schreibt er auch Beiträge für Rundfunk und Fernsehen, die in Haiti regelmäßig für Aufregung sorgen. Einige seiner Gestalten sind zu feststehenden Typen geworden. Im deutschsprachigen Raum wurde er durch die Krimis Schweinezeiten und Soro bekannt, die sich beide auf der Krimibestenliste der ZEIT sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren konnten.  Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zum subversivsten Gegenwartsschriftsteller Haitis. Er wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO ausgezeichnet.