Interview mit Gary Victor am 22. März  in Frankfurt zu SUFF UND SÜHNE und Haiti, Teil 2/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine grundsätzliche Frage zur Kirche. 1979 spielte sie noch eine sehr große Rolle. Heute? Und welche Funktion hat sie in Ihren Krimis?

Man macht allen Kirchen, allen Religionsgemeinschaften zum Vorwurf, daß sie zu dem moralischen Verfall der haitianischen Gesellschaft von heute schweigen. Die Kirche verspricht nur ihren Gläubigen, während die Kirchen teilweise Bestandteile der Machtstrukturen sind. Es gibt derzeit religiöse Sekten in Haiti, die sehr viel Geld einstreichen. Die Katholischen und die protestantischen Kirchen stehen der politischen Macht auf die eine oder andere Weise sehr nahe.



Des Inspektors Tochter Mireya ist 'nur' Adoptivtochter. Warum haben Sie als Schöpfer der Figuren ihm die Adoptivtochter und nicht eine eigene gegeben? Weil man immer für Kinder eintreten muß, egal, wer sie geboren hat?

Zunächst liegt das in der Natur von Dieuswalwe Azémar als ein völlig zerrissener Mensch, daß er nie eine stabile Liebesbeziehung gehabt hat. Er führt ein ziemlich ausschweifendes Leben, er verkehrt mit Prostituierten. Er hat aber immer davon geträumt, der großen Liebe zu begegnen und bei Ermittlungen hat er dieses kleine Mädchen gefunden, das er dann adoptiert hat. Dieses Kind symbolisiert für ihn alles Schützenswertes, alles, was es an Schönem und Reinen in der Welt gibt. Und gleichzeitig steht es auch dafür, daß man Kinder schützen muß, daß man sie vor dem Schmutz dieser Welt bewahren muß.


Aber Mireya ist doch die Tochter seiner großen Liebe Mireya, die er noch kurz in den Bergen kennengelernt hatte, bevor sie ums Leben kam.

Nein, sie ist nicht die Tochter dieser Frau, aber sie spielt in dem Roman Les chloches de la Brésilienne (aus dem Jahr 2006 und nicht ins Deutsche übersetzt, C .S.) Sie ist es, die die Glocken dieser Stadt zum Erklingen bringt.


Ist ein besseres Leben auf Erden nur von den Frauen zu erwarten. Frauen kommen gut weg in Ihrem  Krimi und in der Meinung des Inspektors. Sind vor allem Frauen in armen Ländern die Heldinnen der Wirklichkeit?

Wenn ich das Beispiel meiner Mutter nehme, dann finde ich, daß sie tatsächlich eine Heldin war und ich finde auch, daß haitianischen Frauen oft Heldinnen sind. Wenn ein Land in Gewalt und Korruption versinkt, dann sind die Frauen auch die ersten Opfer. Andererseits sind sie auch Nutznießer und die Korruption läuft oft über sie.

Übersetzer und Verleger Peter Trier: Wenn ich das hinzufügen darf. In Gary Victors Romanen kommt oft der Typ der geldgierigen Ehefrau vor, die ihren Mann zu illegalen Machenschaften anstiftet, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.



Thema SPRACHE, seine Sprache. Bildlich wie eine Filmerzählung. Ist an Verfilmung gedacht? Oder töten Bilder die Phantasie, die sich hier in Fieberekstasen austoben?

Ich glaube, daß Kino ist eine andere Art des Schaffens. Ich träume aber von einer Verfilmung meiner Romane. Ich glaube zum Beispiel, daß SUFF UND SÜHNE sich hervorragend für eine Verfilmung eignen würde. Ich habe bereits viele Drehbücher, Theaterstücke und Radiobeiträge geschrieben.



Aber eine Verfilmung dieses Buches wird schwierig. Allein auf Seite 1 kommt mit der Tarantel und ihren Angriffen gleichzeitig so viel Stoff auf einer einzigen Seite.

Das wäre wie gesagt, eine Neuschöpfung, ein solcher Film,  aber diese Delirien finde ich sehr kinematografisch.



Darum habe ich ja gefragt, aber gleichzeitig kommen auf Seite 1 gleich die Erinnerungen an die vorherigen Kriminalfälle des Inspektors. Er denkt im Fieberwahn an das Hotel, in dem er abgestiegen war, als seine Geliebte auf ihm lag und das einsetzende Erdbeben sie tödlich traf und ihn schützte. Das ist ja rotzfrech geschrieben und gleichzeitig so viel Information, daß ein Leser immer innehalten muß und von vorne beginnt.

Das ist immer das Problem, wenn eine Figur in mehreren Büchern vorkommt, denn man muß dann immer auf vorangegangene Romane anspielen.
 

Eine Frage zu den Namen. Der Vorname Dieuswalwe (Gott sei gelobt) Azémar (eczema, Ekzem?) , Madame Exces (Exzess?), die doch normal ist…Ich habe mir bei den Namen immer Gedanken gemacht, aber vielleicht umsonst?

Meine Mutter hatte eine Hausangestellte namens Exces und Azémar ist in Haiti ein geläufiger Nachname...



Da sehen Sie mal, welche Süffisanz Ihnen ein Leser unterstellt.
(Lachen)


Zurück zum Kommissar. Wie hat sich Dieuswalwe Azémar über die Welt ausgebreitet? In Deutschland  ist er hochwillkommen, seit dem 1. Fall in SCHWEINEZEITEN, dem 2. SORO, dem nun als dritter Streich SUFF UND SÜHNE folgt.

Übersetzer und Verleger Peter Trier: Ich bin auf Victor Gary schon sehr früh aufmerksam geworden, schon bei der Gründung des kleinen Verlages im Jahr 2006. Damals ging es um ein anderes Buch. Ich habe seit damals alle seine Bücher gelesen. Als SCHWEINEZEITEN erschien, habe ich sofort um die Rechte angefragt, weil ich mir gedacht habe, daß dies deutschen Lesern gefallen könnte. Dieuswalwe Azémar ist so eine Ermittlerpersönlichkeit, mit der man sich identifizieren kann und eben geschrieben mit sehr viel Schwung und schwarzem Humor. Das dachte ich mir schon, daß das Potential hat.


Haben Sie schon einmal den Namen Karl-Heinz Arnold gehört.

„Nein“ sagen Verleger und Autor.



Karl-Heinz Arnold war hier in Frankfurt seit 1980  Honorarkonsul von Haiti. Er war ein wohlhabender Mann, der ein Auktionshaus besaß und er hat wirklich viel Geld investiert in die Vertretung von Haiti, denn „Honorar“ kommt ja von Ehre und nicht von Geld. Haiti hätte sich zudem keinen Berufskonsul hier leisten können. Das Haus ist voller Bilder aus Haiti und er war der kulturelle Botschafter Haitis und hat zudem vielen Haitianern hierzulande geholfen. Er hatte sich bei dem großen Erdbeben intensiv um die Erdbebenopfer gekümmert, denn die Katastrophe von 2010 war so schlimm, daß es mit Geldspenden nicht getan war.  Er sorgte dafür, daß Schwerverletzte hier in Frankfurter Krankenhäuser behandelt wurden...Mit seinem Tod im Januar 2014 ist Haiti in Frankfurt verwaist.


Ich habe den Eindruck, daß, abgesehen davon, daß sich die Deutschen überhaupt für die Welt interessieren, sie sich für Haiti mit besonders großer Emotion interessieren. Wie ist es umgekehrt? Was denken die Haitianer über Deutschland?

Ich hätte das Buch mitbringen sollen, das in Haiti erschienen ist, die Geschichte der Deutschen in Haiti. Die Haitianer waren immer fasziniert von Deutschland und den Deutschen. Es gab sehr viele Deutsche, die in Haiti gelebt haben und der Handel wurde von ihnen bis zur amerikanischen Besatzung 1915 dominiert. Alle großen haitianischen Familien wollten, daß ihre Töchter Deutsche heiraten.  Es gibt viele haitianischen Familien mit deutsch klingenden Namen….


Aber woher kommt das?

Ich weiß die historischen Gründe dafür nicht. Möglicherweise wollten die Deutschen in den 50-60er Jahre des 19. Jahrhunderts den US-Amerikanern Paroli bieten und Haiti war eine sehr gute Ausgangsbasis für den Handel dort. Das ging so bis in die 70-80er Jahre des 19. Jahrhunderts. Die haitianische Regierung machte Anleihen bei den deutschen Kaufleuten. Es gab ein deutsches Kulturinstitut, das in Haiti sehr aktiv war, aktiver als das Institut Français. Das deutsche Institut funktioniert noch heute, aber weniger intensiv als früher.


Foto: © Aida Roumer

Info: Gary Victor, Schuld und Sühne,  160 Seiten, Aus dem Französischen von Peter Trier, Verlag Litradukt 2017 ISBN: 978-3-940435-20-0

 

Die Lesereise findet derzeit statt: https://weltexpresso.de/index.php/buecher/9540-gary-victor-suff-und-suehne

noch Termine in:

1. April: Bremen
3. April: Berlin
4. April: Hannover
5. April: Dresden
6. April: Magdeburg
7. April: Eschborn



Autorenportrait des Verlages

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Außer Romanen, Erzählungen und Theaterstücken schreibt er auch Beiträge für Rundfunk und Fernsehen, die in Haiti regelmäßig für Aufregung sorgen. Einige seiner Gestalten sind zu feststehenden Typen geworden. Im deutschsprachigen Raum wurde er durch die Krimis Schweinezeiten und Soro bekannt, die sich beide auf der Krimibestenliste der ZEIT sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren konnten.  Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zum subversivsten Gegenwartsschriftsteller Haitis. Er wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO ausgezeichnet.