Serie: Frankfurt liest ein Buch: Benjamin und seine Väter von Herbert Heckmann, Teil 10

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Jahr 1962, knapp zwölf Monate vor Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, veröffentlichte Herbert Heckmann sein Roman-Debüt „Benjamin und seine Väter“.

Der Autor war damals dreißig Jahre jung und damit eigentlich bereits alt genug, um die zeitgeschichtliche Vorgänge, in die er seine fiktive Romanfigur einbettete, zumindest in der Rückschau zuordnen und bewerten zu können. Denn Benjamin Weis, die Titel- und Hauptfigur, erblickt in der Erzählung am 16. März 1919 das Licht einer Welt, die sich vom Weltkrieg noch längst nicht erholt hat. Die Verantwortlichen der Katastrophe machen andere für das eigene Versagen verantwortlich und führen dadurch den Untergang der Weimarer Demokratie und den endgültigen Zusammenbruch Deutschlands bewusst bis leichtfertig herbei.
Das kann man spätestens seit 1945 nicht nur in typischen Geschichtsbüchern nachlesen. Auch Schriftsteller haben diese Zeit in Erzählungen und Romanen aufgearbeitet. Man greife nur zum dreibändigen Romanwerk „November 18“ von Alfred Döblin.

Herbert Heckmann, der sich „Benjamin Weis“ ausdachte, ist mehr als elf Jahre jünger als seine Figur. Er kann weder das Ende der Weimarer Republik noch die Machtergreifung der Nazis bewusst erlebt haben. Beispielsweise war er am 30. Januar 1933 gerade 2 Jahre und vier Monate alt. Vom Frankfurt der 20er und von dem in der ersten Hälfte der 30er Jahre wird er nur aus Schilderungen anderer gehört haben.
Vielleicht haben die Kinder in den Jahren, die er beschreibt, beispielsweise auf der Bergerstraße in Frankfurt so gespielt, wie er es beschreibt. In gleicher Weise, wie es die Kinder auf der Kaiserstraße in Dortmund oder auf der Wilhelmstraße in Wiesbaden getan haben dürften. Genau vermag er es nicht zu sagen; darüber täuschen auch Fotos aus den 20er und frühen 30er Jahren, die derzeit in der Frankfurter Presse abgedruckt werden, nicht hinweg. Auch eine fotografisch festgehaltene Szene im Osthafen ist lediglich ein Versatzstück, das in Duisburg oder in Bremen ähnlich platziert werden könnte. Ähnlich wie bei den so genannten Fake News wird auf diese Weise unterschwellig eine Authentizität behauptet, die gar nicht vorliegt.

Die fiktive Geschichte eines Jungen, der ohne Vater aufwächst und sich deswegen einen Wunschvater vorstellt, entbehrt nicht eines gewissen Reizes. Solch ein Sujet wird dann besonders plastisch, wenn sich das Kind keinen Reim auf die politischen Vorgänge in den beschriebenen Zeiten machen kann, aber mit diesen Ereignissen ständig konfrontiert ist, auch im vermeintlich geschützten Raum der Familie. Doch wenn man, wie es derzeit geschieht, diesen Roman als ein Stück Frankfurter Heimatgeschichte offeriert, überschreitet man die Grenzen des guten literarischen Geschmacks und betreibt Geschichtsklitterung.

1963, ein Jahr nach dem ersten Erscheinen des Romans, begann in Frankfurt nach längerer Vorankündigung der Auschwitz-Prozess. Warum sah Herbert Heckmann sich damals nicht in der Lage, die von ihm nur grob skizzierten zeitgeschichtlichen Rätsel aufzulösen? Schließlich bleibt der Erzähler einer fiktiven Geschichte Herr des Verfahrens und ist somit allwissend. So hätte er beispielsweise die Hetze auf Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter und nicht zuletzt den antijüdischen Rassismus, den er Benjamin beobachten lässt, in kunstvoller Weise dechiffrieren können. Warum fehlt jeder Versuch einer historischen Reflexion? In seinen späteren Essays und einigen Kurzgeschichten hingegen hat sich Herbert Heckmann als ein sehr aufmerksamer und zeitkritischer Beobachter erwiesen.

Da er bereits 1999 starb, kann man ihm diese Fragen nicht mehr stellen.

Wohl aber kann man die Jury von „Frankfurt liest ein Buch“ nach den Gründen befragen, ausgerechnet dieses mit offensichtlichen Anfängerfehlern behaftete Frühwerk ausgewählt zu haben. Immerhin lässt sich diese Leseaktion nominell von qualitativen Standards leiten, die nur schwer auf einen durchschnittlichen Unterhaltungsroman zutreffen. Die Verantwortlichen und der Verlag, der die Neuauflage herausgibt, haben sehr geschickt eine Marketingkampagne initiiert. Das offizielle Frankfurt spricht erneut von einem Lesefest; selbst die zumeist kritischen Feuilletons der lokalen Presse beteiligen sich am Lob und stellen entsprechend Seiten zur Verfügung.

Das erweckt den Eindruck, als hätte die Stadt mittlerweile die Grenzen ihres kulturellen Vermögens überschritten. Erwartet uns im nächsten Jahr möglicherweise ein umgetextetes Jerry-Cotton-Romanheft? Manhattan lässt sich schnell zu Mainhattan umschreiben und Frankfurt weist eine hinreichende Anzahl an Bösewichtern auf, um die negativen Protagonisten in den Heften ideal ersetzen zu können. Schließlich sind die modernen Formen von Raub und Erpressung, nämlich die Spekulation mit Grundstücken und Häusern sowie der Handel mit wertlosen Wertpapieren hier an der Tagesordnung.
Man könnte sogar, um zu Qualitätsstandards zurückzukehren, auf den Roman eines Autors zurückgreifen, der sich eines Themas der 70er und 80er Jahre bediente. Ich denke an Gerhard Zwerenz und sein „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“. Das Buch, 1973 erschienen, ist vergriffen. Aber vielleicht findet sich ein Verleger, der gegen geringe Lizenzgebühren und bei zu erwartendem Verkaufserfolg eine Neuauflage wagt.

Foto: Herbert Heckmann (c) Hochschule für Gestaltung Offenbach