PEN-Zentrum Deutschland protestiert gegen türkischen Gerichtsentscheidung
Claudia Schulmerich
Darmstadt (Weltexpresso) – Für die Betroffene ist es eine Katastrophe, für die Welt eine Farce in der Türkei. Derselbe Richter, der die türkische Aktivistin Pinar Selek dreimal freigesprochen hat, bestätigte soeben vor der 12. Kammer des Istanbuler Gerichts für schwere Straftaten die Aufhebung seines eigenen Freispruchs.
Anwesend waren 80 Verteidiger und ca.100 internationale Prozessbeobachter, u.a. Christa Schuenke und Günter Wallraff als Vertreter des PEN-Zentrums Deutschland. Damit ist Pinar Selek im Ergebnis einer beispiellosen Prozeßfarce zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Das Urteil geht zur Bestätigung an den Obersten Kassationsgerichtshof der Türkei, der das urteil bestätigen kann, aber nicht muß..
„Der PEN protestiert aufs Schärfste gegen diese Gerichtsentscheidung, die massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Türkei nährt.“ Das hat soeben für das PEN-Zentrum Christa Schuenke als Vizepräsidentin mitgeteilt. Es hätte angesichts ihrer und Günter Wallraffs Prozeßbeteiligung durchaus etwas mehr an Information sein dürfen. Denn die Person Pinar Selek ist gut geeignet, stellvertretend für das zu stehen, was da verurteilt wurde: Kritik, die auch ausgesprochen wird.
Mundtot machen, nennt man solches staatliches Vorgehen und da können türkische Politiker noch so viel Honig der internationalen Öffentlichkeit ums Maul schmieren, dieses Urteil tritt das an Hoffnung nieder, was andere Vorgänge in der Türkei an der positiven Wirkung von rechtsstaatlichen Verfahren und Demokratisierungstendenzen gerade aufgebaut hatten. Schande über solche Gerichte, die dann auch noch stolz darauf sind, angeblich von der Politik unabhängig zu urteilen, aber nichts anderes tun, als bestimmten Meinungsunterdrückern nach dem Mund zu reden. „Nach dem Mund reden“, durch Gerichte „mundtot“ machen, wir begeistern uns gerade wieder einmal für die deutsche Sprache, die genau das ausdrückt, um was es geht: das freie Sprechen, in Wort und Bild, zu unterbinden.
Daß die türkische Soziologin Pinar Selek also eine renitente Frau und auch noch Feministin ist, zudem seit Jahren aktiv die freie Meinungsäußerung in der Türkei fordert, kam wohl strafverschärfend noch hinzu. Sie ist auf- und angetreten gegen Machismus und Militarismus, dieses Zwillingspaar, das in der Türkei noch eine Basis hat. Heute ist sie 41 Jahre alt, aber wird schon seit fünfzehn Jahren wegen angeblicher Unterstützung „terroristischen Aktivitäten im kurdischen Milieu“ verfolgt. Man kann es nicht glauben, aber tatsächlich war es nach drei Freisprüchen genau der Richter, der für den Obersten Gerichtshof in Ankara das Urteil sprach, der sie zuvor schon mehrfach freigesprochen hatte.
Warum das die Deutschen noch mehr als andere interessiert? Weil Pinar Selek seit dem Jahr 2009 im Exil in Berlin lebte, wo sie eine Writers-in-Exile-Stipendiatin des PEN Deutschland war, und mittlerweile in Straßburg lebt, wo sie als Promotionsstudentin an ihrer Doktorarbeit über Emanzipationsbewegungen in der Türkei schreibt. Sie wird also diese lebenslange Haft nicht antreten müssen, aber sie darf auch nicht in ihre Heimat zurück, wo zu sein für sie lebensnotwendig wäre, wie sie sagt.
Hintergrund ist ein Vorgang von 1998, den man ihr zur Last legt, obwohl sie damit nichts zu tun hat und allen Äußerungen nach eben gerade jemand ist, der mit dem Wort ficht und sich strikt gegen Gewaltanwendung äußert. Damals sind am 9. Juli in einer heftigen Explosion sieben Menschen getötet und über hundert verletzt worden. Sie wurde festgenommen und erfuhr erst im Gefängnis durch eine Fernsehmeldung, was sie getan haben soll: für die kurdische verbotene PKK auf dem Istanbuler Gewürzbasar eine Bombe gezündet. Was soll das also? Ein Stellvertreterprozeß meinen die meisten, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Pinar Selek kann nicht zurück und die Warnung an alle anderen wird begriffen. Von daher denkt man auch schnell, aha, das ist ein abschreckendes Beispiel, das gerade deshalb herbeigeführt wird, weil sie derzeit nicht in der Türkei lebt.
Denn hätte man dort das Urteil vollzogen, dann wären die Proteste innerhalb und außerhalb der Türkei nicht abgerissen. Aber so, wo sie ja in Frankreich lebt, da ebbt die Welle des Protestes schnell ab – denn das hat nicht lange Aktualitätswert, daß eine türkische Frau nicht in die Türkei zurückkehren kann - , aber die Warnung für alle anderen, ihre Kritik runterzuschlucken, das Maul zu halten und gefügig zu sein, soll für lange wirken. Allerdings gibt es zwischen der Türkei und Frankreich ein Auslieferungsverfahren. Man kann sich aber nicht vorstellen, daß unser Nachbar eine Auslieferung zulassen täte. Auf jeden Fall hat Pinar Selek angekündigt, daß sie in Frankreich politisches Asyl beantragen wird.